INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
K.WEST: Ein Ergebnis des »1. Jugend-KulturBarometer« war, dass es den hochkulturellen Häusern mittelfristig an Nachwuchspublikum mangeln wird. Hat dieser Befund die kulturelle Bildungslandschaft verändert?
KEUCHEL: Das Jahr 2004 markiert deutlich eine Umbruchssituation, zu der unsere Studie mit beigetragen hat, neben Bildungsinitiativen wie »Kinder zum Olymp« und dem in dieser Hinsicht sehr wichtigen Film »Rhythm Is It!«. All das hat das Thema kulturelle Bildung in den Fokus rücken lassen. Viele Kultureinrichtungen haben seitdem jugendspezifische Konzepte entwickelt und Jugendliche als Zielgruppe ernster genommen.
K.WEST: Hat die kulturelle Bildungsoffensive messbare Ergebnisse gebracht?
KEUCHEL: Nachweisen lässt sich, dass schulische Kulturbesuche zugenommen haben, vor allem bei den Hauptschulen. Das ist ein Erfolg, denn das »1. Jugend-KulturBarometer« hat gezeigt, dass es insbesondere bei der Partizipation von Hauptschülern starke Defizite gibt.
K.WEST: Im Vergleich zu 2004 haben sich die schulischen Kulturbesuche von Hauptschülern fast verdoppelt. Aber Sie verzeichnen gegenläufig dazu eine erhebliche Abnahme des kulturellen Interesses.
KEUCHEL: Das ist ein gesamtgesellschaftliches Teilhabe-Problem und nicht nur im Kulturbereich zu beobachten. Für Sport beispielsweise gilt das genauso. Mittlerweile gibt es Programme, bei denen die Eltern zuhause abgeholt werden, um sie an ein sportliches Angebot heranzuführen, damit sie gesellschaftlich Anschluss halten. Da driften Lebenswelten immer weiter auseinander. Kulturelle Bildung wird das nicht lösen können.
K.WEST: »Trotz der Intensivierung von kulturellen Bildungsmaßnahmen konnte das Kulturpublikum von morgen nicht weiter ausgebaut werden«, schreiben Sie in Ihrer aktuellen Studie. Ein niederschmetternder Satz angesichts der aktuellen Konjunktur kultureller Bildung.
KEUCHEL: Die Besuche haben in der Tat nichts an den Interessen der Jugendlichen verändert. Aber gesellschaftlich ist in den Jahren auch eine Menge passiert: die Verkürzung der Gymnasialzeit, die jungen Leute haben weniger Freizeit, der enorme Anstieg der Kommunikationstechnologien wie Facebook, die Pisa-bedingte Fokussierung auf technisch-naturwissenschaftliche Bereiche und der stetig ansteigende Leistungsdruck. Angesichts dieser Veränderungen kann man sich fragen, wie das kulturelle Interesse heute aussehen würde, wenn seit 2004 nichts passiert wäre.
K.WEST: Es ist also ein Erfolg, wenn der Status quo gehalten wird – mehr hätte man nicht erreichen können?
KEUCHEL: Das »2. Jugend-KulturBarometer« zeigt, dass es neue Konzepte braucht. Es ist wenig förderlich, wenn die Erfahrung mit Kultur ausschließlich in einem Benotungskontext geschieht. Außerschulische Partner müssten noch stärker eingebunden werden.
K.WEST: Schulische Vermittlungsansätze machen Kultur unattraktiv. Ohne sie erreiche ich die Jugendlichen aber nicht. Das ist ein Dilemma, dem schwer zu entkommen ist.
KEUCHEL: Der Ganztag bietet gute Möglichkeiten, das zu ändern. Denn nachmittags wird der Museumsbesuch eben nicht mehr als Schule verbucht. Aber wir befinden uns mittlerweile in einem Teufelskreis, der kaum aufzubrechen ist. Die Altersbarriere wird immer größer. Je älter das Publikum, desto unattraktiver die Veranstaltung für jüngere Besucher. Also gehen die Jugendlichen nicht hin, wodurch der Altersdurchschnitt immer älter wird. Vor 40 Jahren war der Anteil der unter 40-Jährigen am Opernpublikum größer als der über 40-Jährigen. Das ist schon lange nicht mehr so.
K.WEST: Heißt also: Der Blick auf die Haarfarbe im Parkett und nicht das vermeintlich junge Programm auf dem Podium entscheidet, ob der Nachwuchs sich im Konzerthaus wohl fühlt.
KEUCHEL: Das ist doch nachvollziehbar. Wie würde sich ein 50-Jähriger fühlen, wenn im Konzertsaal nur 14-Jährige sitzen? Das ist eine erhebliche Hemmschwelle: Man sieht anders aus und hat einen anderen Bewegungshabitus. Hochkultur ist für älteres Publikum Unterhaltung und ein soziales Ereignis. Die Mehrheit derer, die in ein klassisches Konzert gehen, interessiert sich nicht unbedingt für die Musik.
K.WEST: Die von Ihnen befragten Jugendlichen assoziieren Kultur mehr denn je mit Bildung. Obwohl man in den letzten Jahren bestrebt war, durch neue Formate Einstiegsschwellen abzusenken.
KEUCHEL: Genau das ist das Problem. Bemerkenswerterweise verzeichnen die Konzerthäuser einen beträchtlichen Zuwachs bei den 60-Jährigen und älter, die vorher derartige Einrichtungen nicht besucht haben. Das zeigt, dass durch die neuen Formate, die für das junge Publikum aufgelegt worden sind, vor allem ältere Menschen erreicht werden. Jene also, die zu vergraulen man Angst hatte.
K.WEST: Was verstehen Jugendliche heute unter Kultur?
KEUCHEL: Sie definieren die Künste im klassischen Sinne als Kultur. Darin unterscheiden sie sich nicht von den Älteren. Das ist eine sehr deutsche Definition, andere Länder haben einen breiteren Fokus. Das »1. Jugend-KulturBarometer« hatte allerdings schon gezeigt, dass sie neben den Künsten auch die kulturelle Vielfalt vergleichsweise stark in den Fokus geschoben haben. Das spielte vor acht Jahren für die Älteren überhaupt keine Rolle. Dieser Bereich ist nun noch einmal deutlich angestiegen, auch bei den mittleren Generationen.
K.WEST: Macht sich diese steigende Bedeutung kultureller Diversität in der Kulturlandschaft bemerkbar?
KEUCHEL: Man müsste eigentlich davon ausgehen, dass sich insbesondere Einflüsse aus dem in Deutschland stark vertretenen arabischen Kulturkreis deutlich bemerkbar machen, so wie es in der Kulturgeschichte früher zu beobachten war. Unsere Essgewohnheiten haben sich verändert, in der Kunst ist so gut wie nichts passiert. Da wären erhebliche Vermittlungsanstrengungen nötig, da beispielsweise die Distanz zwischen den musikalischen Traditionen sehr groß ist. Dort, wo interkulturelle Vermittlung betrieben wurde, ist zu beobachten, dass man die Menschen auch leichter für das ›Stiefkind‹ zeitgenössische Kunst begeistern kann. Die interkulturelle Sensibilisierung erleichtert offensichtlich die Einübung neuer Seh- und Hörgewohnheiten.
K.WEST: Unser Kulturbegriff unterliegt einem permanenten Wandel. Und es waren nicht zuletzt die populärkulturellen Interessen der jeweils jüngeren Generationen, die dazu beigetragen haben. Heute aber stellen Sie fest, dass die 14- bis 24-Jährigen ihre eigenen Interessen überhaupt nicht als Kultur definieren wollen. Warum nicht?
KEUCHEL: Ich glaube nicht, dass sie das aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus machen. Sie sehen die Notwendigkeit nicht. Die für sie relevanten Räume sind die der Medien. Wo tauchen dort Kunst und Kultur überhaupt noch auf? In dem Moment, wo in der Soap Opera der Held nicht E-Gitarre spielt, sondern ein fanatischer Museumsgänger ist, wird Kunst in einen jugendspezifischen Lebenskontext gestellt. In Seoul läuft in den U-Bahnen klassische Musik. Da ist Klassik ein Statussymbol. Davon sind wir weit entfernt.
K.WEST: Der Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofs wird klassisch beschallt.
KEUCHEL: Um abzuschrecken, was viel über den Stellenwert aussagt, den klassische Musik bei uns hat.