TEXT: ANDREAS WILINK
Es muss die Stadt sein und was in ihrer Luft liegt: Angst, Rausch, Trieb, Depression, Wahn. Das frühe 20. Jahrhundert in Wien – vom Fin de Siècle zum Expressionismus – ließ die Temperatur sieden. Die Herzen heiß, die Seele gefroren. Kaspar Hauser wurde zur Grundfigur der Epoche. Verloren, heimatlos allüberall. »Ich brauch einen Platz in der Welt«, sagt einer der Gefährdeten: Georg Trakl. 1887 in Salzburg geboren, ist er mit zwanzig in Wien, um Pharmazie zu studieren und an die Gifte zu kommen. Kokain und Co. Doch der Stoff der Dichtung ist stärker. Inspiriert von Rimbaud und Baudelaire, geht es wild und weh in seiner Lyrik zu, herbstfarben, metaphernschwer, untergangstrunken. Beten und sündigen trennt nur ein Atemzug. An jedem Caféhaus-Tisch sitzt hier ein Genie. Oft ein unglückliches, jung und unvollendet. Es krakeelt Kokoschka gegen Ratten und Spießer, während Madame Alma mondän und hochnäsig daher stolziert.
Der Dichter dichtet nachts, im Feuerschein, mit Zigarette im Mundwinkel und wirrem langen Haar. Er liegt bei einer Hure, gezeichnet wie von Egon Schiele, rezitiert Verse und denkt an seine jüngere Schwester Grete, mit der ihn ein leidenschaftliches, vielleicht sexuelles Verhältnis verbindet, das er versucht zu beenden, indem er sie mit dem älteren Brückner, ihrem Musik-Professor (Rainer Bock), verehelicht. In »Tabu« wird das Inzest-Verbot ausführlich gebrochen. Und dekorativ inszeniert. Viel weich beleuchtete Nacktheit (darunter eine Szene wie die mit Anita Ekberg im Trevi-Brunnen), brünstige Lust, schwüle Blicke und umflorte Schwermut, aber meistens so, dass das Künstlerische Mäntelchen für das Erotische zu sein hat. Da kommt jeder Regenschauer wie gerufen, um den Kleiderstoff transparent zu machen. Lars Eidinger mit bitter verzogenem, leicht angewidertem Gesicht macht seinem Ruf, der sanfte Schmerzensmann des deutschen Films zu sein, alle Ehre. Intensität und Sensibilität dringt seinem Trakl aus jeder Pore, als wüsste er schon um seinen jungen Tod durch eigene Hand 1914 auf den galizischen Feldern des Ersten Weltkriegs. Die Regie macht trotz des pseudo-poetischen Potenzgebarens bald schlapp und reiht zu Fernsehformat kultivierte Momentaufnahmen aneinander und behauptet Radikalität, statt sie zu gestalten. Es brauchte einen Canetti oder Schnitzler, einen Ophüls oder im Kontrast Ken Russell, um dieses parfümiert verseuchte Klima zu beschreiben.
»Tabu«; Regie: Christoph Stark; Darsteller: Lars Eidinger, Peri Baumeister, Rainer Bock, Rafel Stachowiak; Deutschland 2011; 100 Min.; Start: 31. Mai 2012.