Nicht zuletzt die Europawahl hat gezeigt, dass der Nationalismus wieder an Kraft gewinnt. Umso wichtiger sind Projekte wie europefiction: Zehn Theater aus sechs Ländern organisieren im Juli ein Sommercamp in Herne für 120 junge Erwachsene – nicht nur aus Belgien und den Niederlanden. Das Ziel: künstlerische Utopien für eine gemeinsame Zukunft.
Er habe noch nie in einer Woche so viel gearbeitet, gefeiert, erlebt und so wenig geschlafen. Es sei die schönste Woche seines Lebens gewesen. Andreas Gruhn erinnert sich noch heute an die Worte eines Jugendlichen, der Teilnehmer in einem der europefiction-Sommercamps war. Etwa 120 junge Menschen kommen dort zusammen – aus Deutschland, Belgien, Ungarn, Frankreich, England und den Niederlanden. Sie präsentieren eigens entwickelte Theaterproduktionen, sie tauschen sich aus, sie diskutieren, sie probieren eine Art ideales Zusammenleben. Nach der diesjährigen Europawahl, die deutlich gezeigt hat, dass der Nationalismus wieder an Kraft gewinnt, und bei der auch viele junge Wähler*innen rechts gewählt haben, ist die Relevanz solch eines Programms gar nicht hoch genug zu schätzen.
Europefiction ist eine Weiterentwicklung des Kulturhauptstadt-Projekts pottfiction. Andreas Gruhn, Leiter des Dortmunder Kinder- und Jugendtheaters (KJT), ist Mitbegründer dieses Projekts, für das die Kinder- und Jugendtheater der Region zusammenarbeiteten (damals waren es neben dem KJT Dortmund das Junge Schauspielhaus Bochum, das Consol Theater Gelsenkirchen, das Helios Theater Hamm, das theaterkohlenpott Herne und – anders als heute – auch noch das tip-Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel). So nachhaltig wirksam sind nur wenige Ruhr.2010-Projekte. Jugendliche und junge Erwachsene entwickeln künstlerische Utopien für eine gemeinsame Zukunft. Seit 2009 und bis heute heißt hier das Motto: »In was für einer Welt willst du leben? Und was bist du bereit dafür zu tun?« Diese Fragen verlieren nicht an Aktualität. Im Gegenteil, die Brisanz hat vielmehr zugenommen. »2007 war eine komplett andere Zeit – das war vor der Finanzkrise, vor den Katastrophen und Kriegen, vor der Pandemie. Verglichen mit heute gab es viel Optimismus, mit dem man in die Welt schauen konnte«, erinnert sich Gruhn an die Anfänge.
2009 startete pottfiction mit einem Auftakt-Camp in Gelsenkirchen. Dann arbeiteten kleinere Gruppen in den jeweiligen Theatern weiter, setzten ihre Visionen zu bestimmten Themen theatralisch um und zeigten diese Arbeiten ein Jahr später im nächsten Camp. 2010, im Kulturhauptstadtjahr, sollte das Projekt eigentlich enden. Aber das Kulturministerium des Landes schlug vor, pottfiction weiterzuführen. Das Konzept ist gleich geblieben. Aber seit 2018 weitet sich der Blick nicht nur städte-, sondern auch länderübergreifend, aus pottfiction wurde europefiction, die Begegnungen sind international. Das heißt: Es gibt mehr Raum für Grenzüberschreitungen, ideale wie reale. Mit dabei sind jetzt Theater aus Rotterdam, Budapest, Paris, Évora und auch das Agora Theater im ostbelgischen St. Vith, das selbst grenz- und sprachübergreifendes Theater für junges Publikum entwickelt und in Belgien, Frankreich und Deutschland unterwegs ist.
Das Sommercamp in diesem Jahr findet vom 7. bis 14. Juli in Herne statt. Das Thema: Neuer Zirkus. Die Theatermachenden aus dem französischen Partnertheater in Paris hätten vor Begeisterung gejubelt, erzählt Frank Hörner, Regisseur und Leiter des Herner theaterkohlenpott, das das Camp in diesem Jahr in und an den Flottmann-Hallen ausrichtet. Der Neue Zirkus hat eine längere Tradition in Frankreich, wird geschätzt und stärker gefördert als in Deutschland. Das theaterkohlenpott kooperiert seit 2020 mit Urbanatix, die Street Art und Artistik in spektakulären Shows zusammenführen. Aktuell zeigen sie ihre Koproduktion »Essence«, gerade erst stürmten sie die Theaterbühnen im Bochumer Schauspielhaus und bei den Ruhrfestspielen, im September geht es in das Theaterzelt beim Düsseldorf Festival.
Was kann ich mit Geräten, mit meinem Körper, mit dem, was ich mache, erzählen? Solche Fragen lassen sich mit dem Neuen Zirkus stellen, meint Hörner. Und er ist gespannt, welche künstlerischen Mittel und Fähigkeiten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen beim Camp präsentieren und welche Geschichten sie damit formulieren. Der Neue Zirkus als Kunstform hole das Publikum niedrigschwellig ab, sei gerade auch für junges Leute interessant.
Das Dortmunder europefiction-Ensemble zum Beispiel mit acht Darsteller*innen auf der Bühne suchte für ihr Zirkus-Stück »Unisolo« nach Themen der Einsamkeit und Gemeinsamkeit, clownesker Humor ist auch dabei. Gruppenleiter Hans Peters gehörte im vergangenen Jahr mit zum ausrichtenden Camp-Team. Er schätzt europefiction als »Austauschtreff, auch international«. »Da entwickeln sich Freundschaften«, sagt er. Begegnungen, die auch über das Projekt hinaus wirkten. Im Camp selbst wird die Demokratie gepflegt. Wie die Woche aussieht, das entscheiden die Teilnehmenden zwischen 16 und 23 Jahren gemeinsam. In Räten wird debattiert und werden Entscheidungen getroffen, alle Teilnehmer*innen werden als aktive Künstler*innen verstanden. Gearbeitet wird auf Augenhöhe – auch mit den bereits etablierten Künstler*innen, die zum Camp für Workshops eingeladen werden. »Europefiction bietet einen großen Raum, Dinge auszuprobieren«, erzählt Andreas Gruhn. »Die Jugendlichen nehmen wahr, dass ihre Stimme gehört wird«.
Dieser (internationale) Austausch sei wichtig und wertvoll, sagt Gruhn. Jede dieser intensiven Begegnungen bringe etwas voran. Erfahrungen, die die Jugendlichen ins Leben begleiteten. Viele der Teilnehmer*innen sind schon seit mehreren Jahren dabei. Und viele von ihnen trifft man auch später in den Theatern wieder.
Aber das Projekt sei auch durch Krisen gelaufen. Viel Enthusiasmus und nicht bezahlte Arbeit steckten dahinter. Die jeweils dreijährige Förderung laufe in diesem Jahr aus. Ob es europefiction im nächsten Jahr weiterhin geben wird, ist noch unklar. Vielleicht in anderer Form, vielleicht ausgerichtet von einem der internationalen Partnertheater. »Wir haben eine Struktur, die gut funktioniert und einen wichtigen Beitrag leistet«, sagt der Dortmunder KJT-Leiter. Aber für jede neue Förderrunde müssten neue Anträge geschrieben, die Themen entsprechend angepasst werden. Das Projekt koste viel Kraft. Sicher ist, aktuell gibt es (noch) kein Geld für ein Camp in 2025. Vielleicht gibt es zukünftig eine europäische Förderung. Dann allerdings ist klar, dass nicht mehr fünf Theater allein aus Deutschland mit jeweils etwa 15 jungen Menschen beteiligt sein könnten, das wäre ein Ungleichgewicht. Motivation für alle Beteiligten ist die positive Energie, die jedes Jahr beim Camp wieder ausströmt. »Da entsteht ein Raum für Menschen, die sich eine Zukunft wünschen und bereit sind, dafür etwas zu tun«, so Gruhn.
Jedwede Förderung wäre wünschenswert. Europefiction ermöglicht internationale Kontakte und kulturellen Austausch. Kunst und Politik kommen in diesem Zukunftslabor zusammen. Was für eine Perspektive, was für eine Chance!
Sommercamp 2024
7. bis 14. Juli
Flottmann-Hallen Herne
Urbanatix: »Essence«
27. bis 29. September
Düsseldorf Festival