Wer Venlo verstehen will, der muss zu Sef Derkx gehen, heißt es. Ein wandelndes Buch sei der Mann. Einer der die Stadt kennt wie kein Zweiter. Im Gebäude einer ehemaligen Fotoeckenfabrik – »eine Venloer Erfindung« – wohnt der 65-Jährige, den man nicht mit einem kurzen Titel abspeisen kann. Sef Derkx ist eine Venloer Institution, Stadthistoriker, früherer Sprecher des Limburger Museums. Ein Mann, der sich für die Vergangenheit begeistert und trotzdem nicht im Gestern lebt. In seinem Arbeitszimmer drängen sich Bücher in den Regalen, Poster und Fotos hängen an den Wänden. Der Kaffee kommt mit einem kleinen Lastenaufzug.
Gut vier Kilometer Luftlinie weiter östlich verläuft die deutsch-niederländische Grenze. Wie ist das mit dieser Grenze? Sef Derkx erzählt zuerst von früher. Von seinem Vater, der in den 20er und 30er Jahren wie selbstverständlich nach Deutschland fuhr. Von den Wörtern, die die Menschen hier in Venlo aus dem jiddischen Wortschatz der Kölner Juden in ihren eigenen Dialekt übernahmen: wie Boks für Hose oder Kielf für Hund. Doch dann kam der Krieg, mit ihm seine Toten, die tiefen Wunden und eine schwierige Zeit danach. »Wo man früher Arm in Arm war, stand man plötzlich mit dem Rücken zueinander«, sagt Sef Derkx. Und heute? Es wäre wohl zu viel, zu behaupten, dass man wieder Arm in Arm steht. Aber man hat sich die Hände gereicht.
Sef Derkx trägt nicht nur eine sympathisch jugendliche Frisur, er hat sich auch eine jugendliche Begeisterungsfähigkeit bewahrt. »Für mich ist es eine Offenbarung zu sehen, was es auf der anderen Seite der Grenze alles gibt.« Auch andere Menschen in Venlo bezeichnen den Moment der Grenzöffnung als Erleichterung. Allerdings kommt zumindest aus deutscher Sicht bei diesem Thema auch Geert Wilders ins Spiel. Der blondierte Rechtspopulist, will den Islam aus den Niederlanden vertreiben. Er will sein Land aus der Europäischen Union führen. Er ruft ständig: Grenzen dicht! Und er kommt aus Venlo. Aus der Stadt, die wie wohl keine andere für die Nähe zwischen Deutschland und den Niederlanden steht und die profitiert von offenen Grenzen für Menschen und Waren. Die »Partei für die Freiheit« von Wilders hat bei den niederländischen Parlamentswahlen am 15. März 13,1 Prozent der Stimmen bekommen: deutlich weniger als er erwartet hatte, im zersplitterten Parteiensystem des Landes aber immer noch gut genug für Platz zwei. Über Twitter bedankte sich Wilders besonders auch bei seinen Wählern in Venlo. Da kam seine Partei auf knapp 20 Prozent.
»Es ist wirklich seltsam, dass er für eine geschlossene Grenze plädiert«, sagt Sef Derkx. Schließlich habe doch Wilders selbst früher in jungen Jahren bei der Senf-Fabrik Kühne auf deutscher Seite sein Taschengeld verdient. Sowieso ist Venlos Nachkriegsgeschichte eine Geschichte der Annäherung. Nach dem Krieg kamen die älteren Deutschen mit den Butterfahrten, um in den Niederlanden günstige Milchprodukte zu kaufen. Für die Jüngeren war Venlo der Vorposten von Amsterdam, ein Stück Freiheit, Unbeschwertheit. Die Menschen in Venlo wiederum schauten gerne deutsches Fernsehen, erzählt Sef Derkx. Den »Blauen Bock«, Krimis oder die Nachrichten – weil die mehr Analyse lieferten als die niederländischen. »So ist Verständnis füreinander entstanden.« Erst recht seit die Grenzen Anfang der 90er komplett geöffnet wurden. »Es ist gut, dass die Leute die Grenze nicht mehr wahrnehmen. Sie wieder aufzubauen – das geht gar nicht mehr.«
Früher haben die Menschen hier von der Grenze gelebt – etwa indem sie schmuggelten. Jetzt wollen sie davon leben, dass sie verschwindet. Das Gewerbegebiet Trade Port soll die Region zu einem logistischen Drehkreuz machen. Der prominente Stadtsohn Geert Wilders passt da irgendwie nicht so recht ins Bild. Wohl auch deshalb reagieren einige Venloer verschnupft, wenn man sie auf Wilders anspricht.
Rob Frey hat dazu eine interessante Geschichte zu erzählen. Der Kulturmanager wohnt in einem Haus am Stadtrand, im Wohnzimmer hängen großformatige abstrakte Bilder. Er ist gerade 55 geworden, sieht aber gut und gerne zehn Jahre jünger aus. »Das kommt, weil ich mich nicht mit Politik beschäftige«, sagt er und lacht. Wenn das so ist, dann müssten die wenigen grauen Haare in seinem dunklen Bart wohl aus dem Januar 2014 stammen.
Rob Frey organisierte damals eine Ausstellung zum 50. Geburtstag des Venloer Malers Sef Berkers. Als Redner für die Eröffnung wollte er keinen Kunstkenner mit einer langweiligen Laudatio. Er fragte Geert Wilders. »Wir wollten jemanden, mit dem man eine Diskussion führen kann.« Die große Überraschung: Wilders sagte zu, ein Bild als Geschenk entgegenzunehmen und dafür zur Vernissage nach Venlo zu kommen. Die Folge: Der Vermieter der Räumlichkeiten sagte ab, die Venloer Kulturelite war verärgert, Rob Freys eigener Bruder sprach zwei Jahre nicht mehr mit ihm. Die Veranstaltung fand trotzdem statt – mit wenigen Besuchern, dafür mit einem großen Sicherheitsaufgebot für den Politiker.
Im Rückblick freut sich der 55-Jährige immer noch über seine Aktion, auch wenn er die Reaktionen nicht nachvollziehen kann. »Die Menschen hier haben einen Kokon um Wilders herum aufgebaut. Sie denken: Wenn wir ihn ignorieren, dann verschwindet er.« Rob Frey dagegen wollte mit Wilders diskutieren.
Es war ein Wiedersehen nach mehr als 30 Jahren. «Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ich 16«, erzählt er. »Da haben wir noch zusammen einen Joint geraucht.« Die beiden sind in der gleichen Gegend aufgewachsen, die Eltern waren befreundet. „Ich kenne ihn, seit er so groß war“, sagt Rob Frey und hält die flache Hand auf Tischhöhe. Ab und zu verbrachten er und Geert einen Nachmittag miteinander. Allerdings: Eine enge Freundschaft entstand daraus nicht. Warum? Rob Frey denkt kurz nach. „Er hatte immer schon so einen Hauch von Führerschaft.“ Überrascht es ihn, dass Wilders so geworden ist, wie er ist? „Überhaupt nicht.“
Dabei ist der Mann durchaus ein Rätsel. Wilders wuchs als jüngstes von vier Kindern auf. Seine Mutter, die heute noch in Venlo wohnt, hat indonesische Vorfahren. Von Wilders selbst kursieren Bilder aus Jugendjahren, die ihn mit Dreitagebart und dunklen Locken zeigen. Im alternativen Jugendzentrum wurde er auch gesehen. Später heiratete der Politiker eine Ungarin.
Inzwischen ist er wegen Anstiftung zu Hass verurteilt und stilisiert sich zum Märtyrer: Angeblich lebt Wilders, der in Venlo nur noch selten zu sehen ist, mit seiner Frau aus Sicherheitsgründen in wechselnden Unterkünften. In speziell gesicherten Gebäuden oder Gefängnissen, ohne dauerhaften Wohnsitz. Weil er – der sagt, was die Leute denken – ständiger Gefahr ausgesetzt sei.
Gefällt auch das vielen Menschen in Venlo? Diese Frage geht an Lilian Helder, sie wartet im Café Central am Marktplatz, direkt neben dem imposanten Rathaus. Die 43-jährige Venloer Anwältin sitzt für die Wilders-Partei im Parlament. „Die Menschen haben Angst davor, ihre Identität zu verlieren“, sagt sie. „Sie haben das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie Niederländer sind.“
Müssen also wieder Kontrollen und Schlagbäume her, auch östlich von Venlo? Es geht hier um zwei verschiedene Arten von Grenzen. Die deutsch-niederländische Linie östlich von Venlo ist zwar kaum noch sichtbar, aber man kann dort hingehen. Man kann sich anschauen, wie Moos über die alten Markierungssteine wächst. Und auch Lilian Helder ist der Meinung, dass die Niederlande davon profitieren. „Wir machen hier die tägliche Erfahrung, die Grenze zu überqueren. Wir wissen, dass wir zusammenarbeiten müssen.“
Die Grenze, nach der Wilders ruft, ist eine andere. Sie dreht sich um die Frage: Wer soll in diesem Land leben? Wie stark sollen Zuwanderer ihre eigene Kultur pflegen? Lilian Helder jedenfalls glaubt, dass viele Niederländer sich nicht mehr zu Hause fühlen, wenn zum Beispiel Muslime ihre eigenen Schulen gründen. »Deswegen ist Geert so populär. Weil er das als Politiker auf den Punkt bringt.«
Allerdings bleiben Fragen. Auch in Venlo mag es inzwischen Moscheen geben. Auch in Venlo gibt es Kriminelle. Aber zumindest was das Stadtbild betrifft, ist die 100.000-Einwohner-Stadt kein Vergleich mit den Vororten der großen Städte, mit den Vierteln von Amsterdam, Den Haag oder Rotterdam, in denen kriminelle Jugendbanden von sich reden machen, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist und längst nicht jeder Niederländisch spricht.
Venlo dagegen? Haben die Menschen dort wirklich Angst vor Kriminalität und Einwanderung? Wilders Popularität in der Stadt hat natürlich auch einen anderen Grund. Seine Herkunft ist Teil seiner Marke. Er spricht auch im Parlament in Den Haag mit dem weichen G, das den Dialekt der Provinz kennzeichnet. Er spricht dort für eine Stadt, die sich in den Niederlanden nicht nur räumlich an den Rand gedrängt fühlt. In der Randstad, dem Ballungsraum im Westen, sprechen die Menschen abschätzig über Städte wie Venlo, die als provinziell gelten und gefühlt weit weg sind vom Herzen des Landes: Zwei Stunden braucht der Zug von Venlo nach Amsterdam. In Mönchengladbach ist man in einer halben Stunde. »Es gibt nicht viele von uns im Parlament«, sagt Lilian Helder. Wilders aber spricht als Mann aus Venlo. Dabei blicken manche Menschen vielleicht auch darüber hinweg, was er sagt.
Lilian Helder ist übrigens überzeugt: Die Grenzen für bestimmte Menschen zu schließen und trotzdem von ihrer Offenheit zu profitieren – das kann funktionieren, gleichzeitig. Aber wie? Offenbar stellen sich auch Menschen in Venlo diese Frage. »Hoe dan, Geert?« hat ein anonymer Künstler im Februar an die Eisenbahnbrücke über der Maas gesprüht. Eine Frage, die der Komiker Arjen Lubach geprägt hat. Frei übersetzt: Wie soll das gehen, Geert? Das »Geert« hat danach allerdings wieder jemand schwarz übersprüht. Vielleicht ein ganz gutes Symbol für diese Stadt, in der die Menschen sich nicht einig sind, wie sie umgehen sollen. Mit diesem Geert.