Irgendwie muss Essens Opernintendant Stefan Soltesz den Australier Barrie Kosky und sein quirlig-querständiges Theater lieben. Oder er kalkuliert bewusst die Provokation als notwendiges Salz in der Stadttheater-Suppe ein. Mit dergleichen war auch in der Inszenierung der schon etwas ranzigen Politoper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Brecht / Weill zu rechnen. Kosky hat uns nicht enttäuscht. In der Netzestadt Mahagonny zappelt der Spießer am Whisky-Tropf und über Minderjährigen, kotzt zum Gebet einer Jungfrau und frisst sich voll, bis es ihm buchstäblich an allen Enden heraus quillt. Lang bewimperte Glamour-Boys lassen die Hüften kreisen, wenn die alte Freundschaft der vier Alaska-Holzfäller aufgerieben und der Protagonist Jim Mahoney geblendet und seiner Zunge beraubt wird. Von Humanität und Solidarität keine Spur.
Gleich Brecht balanciert Kosky auf dem schmalen Grat zwischen moralisierendem Untergangsszenario und der Faszination durch das Verbotene. Politische Plakate oder Anspielungen auf die jüngste deutsche Vergangenheit werden gemieden. Stattdessen gräbt Kosky tief in der Pappmaché-Wüste (Bühne: Ralph Zeger) und holt – inspiriert durch Brechts biblischen Moritatenton – Gesetzestafeln und Moseskarikaturen hervor. Archaische Rituale wie Jennys Geburt toter Zwillinge bei der nahenden Hurrikan-Katastrophe gleichen apokalyptischen Visionen. Ansonsten aber geriert sich der Regisseur als eine Art Woody Allen der Opernbühne, der sein Judentum genüsslich persifliert. Dazu dirigiert Soltesz ein bewegliches, durchaus intimes Songspiel ohne sinfonische Tünche, eher Bühnenmusik als ambitionierte Oper. Das Ensemble agiert mit Verve, aber Astrid Kropp (Jenny) und Jeffrey Dowd (Jim) stehen auch beispielhaft für die stimmlichen Mühen, die man beim Grenzgang zwischen opernhafter Dramatik und frechem Musicalton hatte. // MSS