Boris Charmatz ist eine schillernde Persönlichkeit in der internationalen Szene. Sein Name steht für spektakuläre Produktionen, die unsere Zeit kontrovers spiegeln und ästhetisch das Experiment suchen. Mit Perfomances wie »10 000 gestes« oder »enfant« (2011) für 17 Kinder, neun Tänzer und drei Maschinen über das Verhältnis unserer Gesellschaft zum Wesen des Kindes gelangen ihm intensive und schonungslose Werke. In Nordrhein-Westfalen gastierte er mit seinem »Musée de la Danse« bei der Ruhrtriennale 2012 und 2013, unter anderem mit »enfant«.
Charmatz wurde 1973 in Chambéry geboren und an der Opéra Nationale de Paris sowie am Conservatoire de Lyon klassisch ausgebildet. Europaweites Aufsehen erregte er, als er 2008 die Leitung des choreografischen Zentrums von Rennes übernahm und das Kollektiv zum »Musée de la Danse« erklärte – ein Zehn-Jahres-Projekt. Seine risikofreudigen Tanzpositionen wurden im öffentlichen europäischen Raum gefeiert und in den großen Museen dieser Welt wie dem Moma in New York und der Tate Modern in London präsentiert.
Dennoch, die Personalie überrascht deshalb, weil der Franzose keinerlei Verbindung zu Pina Bausch hat. Er ist ihr nie begegnet. Er verweist nur darauf, dass er mit Raimund Hoghe, ihrem einstigen Dramaturgen, und Raffaële Delaunay, ehemalige Tänzerin in Wuppertal, gearbeitet habe. »Jeder hier weiß mehr über Pina Bausch als ich«, bekennt der Tanzkünstler freimütig bei seiner Vorstellung in der historischen Stadthalle von Wuppertal. Auch Gemeinsamkeiten zwischen Charmatz und Bausch muss man sich ein wenig zurechtbiegen. Er, der Selbstdarsteller, mag die große Geste, redet gerne und ausschweifend über seine Visionen – wie bei seinem Auftritt in Wuppertal sehr deutlich wurde. Sie dagegen war verschlossen wie eine Auster und geheimnisvoll wie eine Sphinx. Bausch inszenierte das Verinnerlichte. Beide aber stehen für das Radikale, Schonungslose in ihrer Kunst, das Verschieben von ästhetischen Grenzen.
Aber Charmatz ist, wie er sagte, verliebt nach seinen Besuch in Wuppertal und einer Begegnung mit dem Ensemble. Offenbar ein Gefühlsmensch, ein Enthusiast, von Impulsen gesteuert. Entsprechend hochfliegend sind seine Pläne. Er spricht von einem Manifest für das 21. Jahrhundert. Er, der eine deutsch-französische Familiengeschichte hat, streift die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, um einen neuen Geist der deutsch-französischen Verbindung zu beschwören. Charmatz denkt ganz groß, sieht das Tanztheater eingebettet in ein deutsch-französisches Projekt. Was bedeuten könnte, dass die Company und ihr Intendant nicht mehr dauerhaft im Bergischen Land ansässig sind.
Außerdem möchte er 1000 Tänzer in einem Stadion zu einer Performance versammeln: »Tanz heilt die kranke Gesellschaft.« Auch im Kölner Dom sieht er eine Bühne für das Tanztheater Wuppertal. Für das Werk von Pina Bausch stellt er sich Open-Air-Spektakel vor. »Man muss Pinas Erbe neu denken, nackt, ohne Ausstattung, a-capella.« Ein Visionär? Ein Verrückter? In jedem Fall ein Balanceakt zwischen Sakrileg und großem Wurf.
Seine ungeheure Energie wird der neue künstlerische Leiter noch gut brauchen können. Denn man holt ihn nicht nur, um schöpferisch tätig zu sein und sich um das Erbe der Jahrhundert-Choreografin zu kümmern. Er muss auch mit der Pina-Bausch-Stiftung zusammenarbeiten und die Planung des Pina-Bausch-Zentrums begleiten – eine gigantische Aufgabe.
Boris Charmatz ist Glück zu wünschen, denn bei allen Vorbehalten ruhen doch die vermutlich letzten Hoffnungen für eine dauerhafte Perspektive des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch auf ihm.