TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Die Leichen liegen nicht besonders tief am Rande der Stadt. Ein Moor wird trockengelegt, zwei Tote mit Betonteilen am Körper kommen ans Tageslicht und ein Kommissar wühlt im Dreck. Könnte seine Lebensaufgabe sein, das Stochern in den Sedimentschichten der Gesellschaft; aufreibend, fingerbeschmutzend. Hat schon einiges gesehen, dieser alt gewordene Polizist, in den nächtlichen Rotlichtvierteln, Hinterzimmern, Bahnhofshotels, Bordellen, Eros-Centern und Boxclubs der Stadt.
»Ein ostdeutsches Metropolis« nennt Clemens Meyer seine Version einer Großstadt, »ein Hybrid aus Leipzig und Halle an der Saale«; eine namenlose, düstere Metropole, ein dunkler Kristall, funkelnd und lichtbrechend. Die Menschen, von denen Meyer erzählt, sind »alle gefangen zwischen den Mauern der Stadt« – Prostituierte, Kriminelle, Freier, Zuhälter, Drogendealer, Geschäftemacher, Polizisten, Nachtgestalten. Beschädigte Leben. Ein Ladyboy erinnert sich an Dirty Dancing und Audrey Hepburn, eine Hure will endlich mal am Tagesende »wie die Feierabendfahrer nach Hause fahren« und »AK 47« liegt sterbend auf der Straße. Der »Pferdemann«, ein ehemaliger Jockey, sucht seine Tochter und reitet nachts am verwaisten Hauptbahnhof durch seine Erinnerungen.
IMMOBILIEN UND PUFFS
Die Zukunft findet allenfalls in Querverweisen – Stanisław Lems »Solaris« oder Zager & Evans’ Hippie-Dystopie »In the Year 2525« – statt, ansonsten herrscht anhaltende Gegenwart. Oder man blickt zurück in die Jahre des Aufbruchs nach der Wende, als die Geld- und Glücksucher nach Osten strömten, um Territorien abzustecken und Einfluss zu gewinnen. Korruption, feindliche Übernahmen, Ex-Stasioffiziere, Waffenhandel. Immobilien und Puffs, am besten beides. Auch schon lange vorbei.
Clemens Meyers Sätze bauen Gedankengänge, verschachtelt, assoziativ, nicht linear, abschweifend. Er kompiliert Nächte, Jahre, Menschen zu einem großen Textfluss, der alles mitreißt. Lässt den Bordellbesitzer, der seinen Club am liebsten mit Gustav Mahler beschallen würde, Banalitäten über Tatort-Kommissare erörtern und mischt das Hardcore-Porno-Geschwätz des Sexradiomoderators Ecky mit dem Hohelied Salomos – »Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen«.
SUMMEN DER NEONRÖHREN, WETTERLEUCHTEN
In der Tat – die Nacht kommt früh in Clemens Meyers zweitem Roman und birgt bei aller Härte und Aussichtslosigkeit immer auch eine sachliche Romantik: das leise Summen der Neonröhren, Wetterleuchten am Horizont. Als Hoffen auf den Morgen, auf das erste Rosa zwischen den Häusern. »Wie ist die Welt so stille« – eine Prostituierte steht am Fenster, wartet auf den Anruf eines Freiers, blickt in eine kalte Januarnacht und denkt an Matthias Claudius’ »Abendlied«, den Mond und an den weißen Nebel, der aus den Wiesen steigt.
Bereits Anfang 2008, kurz bevor seine Shortstorys »Die Nacht, die Lichter« erschienen, hat Clemens Meyer die ersten Sätze dieses monumentalen Gesellschaftsromans geschrieben. Auslöser war ein damals zehn Jahre alter Zeitungsartikel über die Schüsse auf einen »Vermieterkönig« im Rotlichtmilieu. Diese ersten Zeilen sind von ihm überarbeitet worden und bilden nun das letzte Kapitel von »Im Stein« – O-Töne einer Prostituierten, die routiniert mit einem unerfahrenen Jungen schläft, den sie aber zehn Minuten später schon wieder vergessen hat. Stattdessen lobt sie die praktischen Zewa-Küchenrollen, erzählt von bizarren Kundenwünschen und betont, dass sie nicht küsst. Aus dieser traurigen Gegenwart scheint es kein Entkommen zu geben. Oder doch? Meyer hat dieses erste, letzte Kapitel wie folgt überschrieben: »Ich möchte ein Pferd, irgendwann mal.«
Clemens Meyer: »Im Stein«, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 560 Seiten, 22,99 Euro
Lesung am 19. September 2013 in der Bundeskunsthalle, Bonn, und am 19. Oktober 2013 im Rahmen von »Titel on Tour« in Bielefeld. www.nrw-kultur.de