TEXT UND INTERVIEW: ANDREAS WILINK
Im Flur von Wim Wenders’ Produktionsfirma, Neue Road Movies, in Berlin hängt eine Fotografie von Pina Bausch, entstanden 1966. Sie zeigt die 26-jährige Tänzerin – durchsichtig, zart und fein wie gezeichnet von Leonor Fini, aber schon mit dem durchdringenden, bannenden Blick. Das Foto ist vermutlich nicht erst dort, seit Wenders seinen Film für »Pina« geplant und abgeschlossen hat.
Die 100-minütige Dokumentation in 3D mit dem appellativen, von der Patronne entliehenen Untertitel »tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren«, wird auf der Berlinale am 14. Februar uraufgeführt und kommt am 24. Februar in die Kinos. Die Festivalregeln verbieten eine Vorab-Besprechung. Nicht aber die Besichtigung des Films und auch kein Gespräch mit dem Regisseur über seine Arbeit und seine nicht mehr anwesende Hauptdarstellerin. Pina Bausch starb am 30. Juni 2009.
Doch ist sie mitten unter uns. Ihre Bewegungsbilder sind da, gesammelt während 36 Jahren in den Aufführungen ihres Theaters der Freiheit, das weiterhin von Wuppertal um die Welt tourt. Ihre Stimme spricht, auch wenn die Rede nicht ihr Medium war und ihr das »Ahnbar-Machen« über buchstäbliche Gewissheit ging. Für ihre Tänzer scheint sie in einer Art Transsubstantiation anwesend: »ein Stück Pina in uns allen – wir alle sind Pina«. Und das suggestive 3D-Verfahren verspricht, dass in den Tanzszenen die Darsteller von der Leinwand herab in den Raum treten und physisch werden, ähnlich wie in Woody Allens »The Purple Rose of Cairo«.
Wim Wenders und Pina Bausch kannten sich mehr als 20 Jahre. Sie waren Freunde. Sich nahe in viel Dingen, nicht nur äußerlich sichtbaren wie der Vorliebe für die Kleider von Yohji Yamamoto, obwohl der Dresscode über bloße Kostümierung hinausging, Fragen nach Identität berührte, die Wenders schon in seinem Film über den Japaner, »Aufzeichnungen von Kleidern und Städten« (1989), anschnitt und das Nachdenken über das Schneider-Handwerk beförderte: auch dies eine Montage, die Körperbewusstsein, Ichgefühl, Bewegungsräume schafft.
Wenders, der 1945 in Düsseldorf geboren wurde, in Oberhausen aufwuchs und später sein erfundenes Amerika tatsächlich zu finden suchte, hatte am 4. September 2009 auch die Totenrede für Pina im Wuppertaler Opernhaus gehalten, von einem »historischen Verlust« und von ihrer »Phänomenologie der Gesten« gesprochen. Damals, mit ihrem Tod, schien die Idee des Films mit, über und für Pina Bausch gescheitert. Es gibt ihn nun aber doch.
Dreharbeiten zu »Pina«: »Sacre«-Ensemble, Regisseur Wim Wenders und 3D-Kamera, © NEUE ROAD MOVIES GmbH, Foto: Donata Wenders
K.WEST: Als Sie 1973 »Alice in den Städten« in Wuppertal drehten, war Pina Bausch soeben zur Leiterin des Tanztheaters berufen worden. Sie sind sich aber nicht über den Weg gelaufen.
WENDERS: Da wussten wir nichts voneinander. Ich wusste nicht mal, was Tanztheater war – und der Rest der Republik auch noch nicht.
K.WEST: Der Rest der Republik wusste es aber früher als Sie, der Pina Bauschs Tanztheater erst 1985 für sich entdeckt hat.
WENDERS: Das kam daher, dass ich 1978 nach Amerika gegangen bin und dort durchgearbeitet und bis 1984/85 gelebt habe. Gerade die Zeit also, in der Pina bekannt wurde.
K.WEST: Von Ihrer ersten Begegnung mit dem Tanztheater sagen Sie, wie »vom Donner und zu Tränen gerührt« gewesen zu sein.
WENDERS: Allerdings. Dabei war es mehr oder weniger zufällig, bei einer Retrospektive von Pina im Teatro Fenice in Venedig. Ich hatte bis dahin mit Tanz nichts am Hut. Aber dann haben Leute mir von Pina Bausch erzählt und ich dachte, das muss ich mir mal ansehen.
K.WEST: Es war »Café Müller« – ein guter Auftakt.
WENDERS: Ja. Ein gewaltiges Entrée, auch in der Kombination mit ihrem »Sacre du Printemps«.
K.WEST: Hat diese Erstbegegnung auch die Auswahl der vier Stücke für den Film beeinflusst?
WENDERS: Bei »Café Müller« und »Sacre« waren wir uns einig. Auch »Vollmond« war unumstritten; danach gab es manches, was weh tat. Aber Pina und ich konnten nur aufnehmen, was in der Drehphase im Theater gespielt würde. Wir hätten sonst weder Bühne noch Dekor gehabt. Wir mussten uns also begrenzen. Die endgültige Auswahl war ein etwas schmerzhafter Prozess, für uns beide.
K.WEST: Dazu kam noch »Kontakthof« als vierte Choreografie.
WENDERS: Unsere Hauptidee war, »Kontakthof« mit den Tänzern des Ensembles aufzunehmen, da es schon gefilmte Versionen mit den Senioren und mit den Jugendlichen gab. Mit ihren Tänzern hatte Pina das schon lange nicht mehr gemacht.
K.WEST: Im Film gehen die drei Altergruppen gewissermaßen Hand in Hand.
WENDERS: Ich hatte den Wunsch, das auch mal quer durch die drei Generationen erzählen zu können.
K.WEST: Wie sehr hat Pinas Tod den Film in seiner Dramaturgie verändert?
WENDERS: Wir hätten einen völlig anderen Film zusammen gemacht, mit Pina selbst im Zentrum. Das gemeinsame Konzept basierte zwar auf der Aufzeichnung dieser vier Stücke, darüber hinaus wäre es aber ein Reisefilm geworden, ein Road Movie, bei dem wir Pina nach Südamerika und Asien, vielleicht noch nach Ägypten begleitet hätten. Und wir hätten mit ihr in Wuppertal gedreht. Das wäre ein Film geworden, in dem sie nicht viel hätte reden und vor allem ihre Arbeit nicht hätte erklären müssen. Pina hat ja der Sprache nicht besonders getraut. Von einem Tag auf den anderen war das hinfällig. Meine erste Reaktion war, den Stecker zu ziehen und die Produktion abzusagen. Aber die Tänzer waren die ersten, die sagten: »Nein, jetzt erst recht!« Pina wollte immer, dass die Stücke einmal gut aufgezeichnet und »aufgehoben« würden. Es nicht zu machen, wäre nicht in ihrem Sinn gewesen.
K.WEST: Sie haben Pinas Unbehagen gegenüber der Sprache erwähnt…
WENDERS: Kenne ich. Ist bei mir nicht so ausgeprägt wie bei Pina.
K.WEST: Diese Gemeinsamkeit war Ihnen gleich bewusst?
WENDERS: Es war wie ein elektrischer Schock, als ich das erste Mal etwas von Pina sah. Das war etwas aus einer getrennt erlebten, aber doch gemeinsamen deutschen Geschichte, eine Sensibilität, vielleicht herrührend aus unserer Jugend in den 50er/60er Jahren, die uns hat verwandt fühlen lassen. Pina war da wie eine Art ältere Schwester für mich. Ich wusste sofort, was sie sagt, was sie sagen wollte, wenn sie es mit Worten nicht richtig ausdrücken konnte. Dafür konnte sie es in der anderen Sprache, auf die sie sich spezialisiert hatte, umso besser sagen, mit Bewegungen.
K.WEST: Eine weitere Gemeinsamkeit ist der Impuls zu schauen, eine Spannung von Beobachtung und Bewegung herzustellen. Bresson spricht vom Kino als der »sichtbaren Rede der Körper«.
WENDERS: Pina nannte es immer »gucken«. Mit einer unglaublichen Geduld hat sie stundenlang geguckt, das Leben in der Stadt beobachtet, aber vor allem ihre Tänzer. Niemand auf unserem Planeten hat seinen Blick so geschärft für das, was Menschen durch Bewegung von sich zeigen. Wie kein anderer hat Pina erforscht, was wir durch unsere Körpersprache ausdrücken. Jeder andere, in Theater, Tanz oder Film, war davon weit entfernt. Vielleicht hat sie gerade wegen ihres Misstrauens in die Sprache dem Schauen so vertraut.
K.WEST: Darin weniger zweifelnd als Sie?
WENDERS: Eigentlich nicht. Mein Zweifel betraf nie das Gucken, sondern das Erzählen, das Beeinflussen oder Manipulieren des Schauens. Ich wollte Maler werden, habe ja auch fotografiert, also das Schauen war stets die Grundlage. Pina hat auch erzählt, aber weniger fiktiv, in Form der Montage, dem Filmmachen durchaus ähnlich, und eher nach einer dokumentarischen Methode, indem sie das zusammenbaute, was ihre Tänzer erzählten und was sie daran interessierte.
K.WEST: Die Tänzer der ersten Generation sind die Erfinder gewesen.
WENDERS: Alle ihre Tänzer waren Erfinder. Vielleicht ist von unserer eigenen Entdeckungsgeschichte her unsere emotionale Bindung an die ersten stärker, an Dominique, Malou, Lutz, Mechthild, Jean, Nazareth usw. Die Zeit der Erfindung ist mit Pinas Tod beendet, das stimmt. Die Tänzer, die jetzt in die Stücke hineinkommen, müssen sie nacherzählen, die Rollen wiedererfinden, was auch harte Arbeit ist. Und auch kreativ!
K.WEST: Noch eine dritte Gemeinsamkeit existiert: die örtliche. Sozusagen lebenslänglich Wuppertal. Szenen des Films situieren Sie in der Stadt und im Ruhrgebiet.
WENDERS: Ich konnte Pina nichts mehr fragen, also habe ich meine Fragen an die Tänzer gerichtet und damit Pinas Arbeitsmethode weitergeführt. Sie antworten, wie sie es von Pina kannten, mit Bewegung, Tanz, Präsenz. Mit dem Filmen der Stücke allein wäre es ja nicht getan gewesen, ich musste Pinas Abwesenheit mit etwas füllen. Ich habe mir die Freiheit genommen, das Theater zu verlassen und andere Spielräume zu finden – Wuppertal, das Umland, Essen Zollverein, Schauplätze, die ich lange und sorgfältig gesucht habe. Für die 3 D-Kameras war das ein Vergnügen, sie gewannen eine andere Raumtiefe, als das auf der Bühne möglich war.
K.WEST: Man weist Wim Wenders doch eher den mythischen Raum Amerikas auf seiner seelischen Landkarte zu. Ist Ihnen als Revier-Kind die Landschaft der Herkunft wichtig?
WENDERS: Absolut. Nachdem ich die große Ersatz-Heimat, den amerikanischen Westen, endlich abgearbeitet habe, konnte ich zurück. Ich war schon sehr zuhause in den Bildern, die wir hier gemacht haben. Auch in Wuppertal – die Schwebebahn fährt durch die Sonnborner Straße, wo Alice und Philip Winter schon herumgelaufen sind.
K.WEST: Überhaupt das Mythische. Aus aktuellem Anlass, mit Blick auf Bayreuth 2013, wie definieren Sie Mythos?
WENDERS: Ob wir Geschichten im Alltag finden oder sie uns ausdenken, das Mythische ist das, was all diese Stories trägt: das Urmaterial, aus der sie entstehen, was uns alle aus den verschiedensten Kulturkreisen diese Geschichten verstehen lässt. Man hat nicht unbedingt Zugang zu jedem Mythos. Nicht alles steht einem offen.
K.WEST: Aber Wagners »Ring« schon?
WENDERS: Da gäb’s eine ganze Menge, von dem ich etwas verstehe. Fangen wir mit dem Anfang an: Ich bin am Rhein groß geworden, an seinem Ufer habe ich meine ersten fünf Jahre verbracht. Kein Gold gefunden, aber jede Menge Kiesel.
K.WEST: Vom Es-Dur-Akkord im Rhein zur Ur-Figur – dem männlichen Helden, seinen Aufbrüchen und Suchbewegungen. Die äußere Erkundung erlaubt eine innere Erfahrung.
WENDERS: »Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen.« Eine grundlegend deutsche Geschichte, vielleicht die deutscheste von allen. Der Entwicklungsroman hat nicht umsonst bevorzugt in Deutschland stattgefunden. Diese Beziehung zu Mythen, zu Landschaft, Natur, Musik, Philosophie – keine Kultur hat das so weit getrieben wie unsere, gerade in der Romantik und im 19. Jahrhundert. Diese Verwurzelung hatte Pina auch.
K.WEST: Um doch noch etwas Trennendes anzusprechen. Sie sind ein Männer-Regisseur, die Frau in Ihren Filmgeschichten ist häufig Katalysator, Idealbild, Wunschphantasie. Pina hingegen ist die Künderin der Frau, zwar auch des Opfers Frau, aber vor allem ihrer Anmut, Schönheit, ihres Humors, ihrer Stärke, Kraft und Energie.
WENDERS: Stimmt. Wenn mich in Pinas Stücken, vom ersten bis zum letzten, etwas gerissen und vom Sockel gehauen hat, dann ihre Sicht auf Frauen. Ich war dazu als Mann nicht fähig, aber hab’s nur zu gut verstanden, weil ich versucht habe, Männer so zu sehen und ähnlich nah an die männliche Seele heranzukommen, etwa in »Im Lauf der Zeit« oder in »Der amerikanische Freund«.
K.WEST: Da besteht bei Ihnen eine Sehnsucht.
WENDERS: Das wäre auch in dem gemeinsamen Film mit Pina das Thema gewesen: das Gucken und die Sehnsucht. Mein »Pina«-Film hat letztendlich nur ein einziges Vorbild – »Die Klage der Kaiserin«, Pinas eigener Film von 1989. Ein unbekanntes Meisterwerk.
»Pina – tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren«« von Wim Wenders; Deutschland 2011; 100 Min.; Start: 24. Februar 2011.