Die Zeichen stehen auf Anfang, auch in Julia Wisserts Büro. Ein Schreibtisch, ein runder Cocktailtisch und einige zusammengewürfelte Stühle, das ist schon das gesamte Mobiliar. Dafür stapeln sich überall Bücher, die viel mehr über die junge Regisseurin erzählen, als es ein perfekt eingerichtetes Büro je könnte. Sie zeugen von intellektueller Neugier. Die 36-Jährige ist die erste weibliche Intendantin des Schauspiel Dortmund, die als Person of Color wohl auch offener und zugleich kritischer über das »Wir« denkt. »Muss ich wirklich in ein brennendes Haus integriert werden?«, zitiert sie an einer Stelle des Interviews denn auch James Baldwin – ein Gespräch über die Zukunft der Gesellschaft, Theater in der Krise, ein Schauspielhaus als Kunstwerk und warum sie eine Stadtintendanz für Dortmund gegründet hat.
kultur.west: Frau Wissert, was bedeutet für Sie »Wir«?
WISSERT: Das ist eine interessante Frage. Denn durch Corona wird das »Wir«, das ich mir vorgestellt habe, derart beschnitten, dass ich mir ernsthaft Gedanken darüber mache, was »Wir« in Zukunft für das Theater bedeuten wird. Mein großer Wunsch ist es, Theater einer Stadtgesellschaft anders zur Verfügung zu stellen. Dabei geht es dann um Formen direkter Partizipation der Bürger*innen an einzelnen Projekten. Doch das ist in der gegenwärtigen Situation nun einmal sehr schwierig.
kultur.west: Müssen Sie also gerade Ihre ganzen Vorstellungen noch einmal überdenken?
WISSERT: Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, es wäre viel leichter, auf der Bühne einfach Shakespeare zu machen. Dann müsste man weniger »Wir« denken. Aber das stimmt so natürlich auch nicht. Schließlich sind wir hier am Schauspiel Dortmund auch ein großes „Wir«.
kultur.west: Und sicher ein sehr vielfältiges »Wir«…
WISSERT: Ja, unser »Wir«, das sind 89 Köpfe, 1000 unterschiedliche Aufgaben, einige verschiedene Sprachen und eine Million Ideen.
kultur.west: Ein Spiegel der Gesellschaft, die im Moment das große »Wir« auch wieder neu aushandelt…
WISSERT: Ich merke, wenn Sie sagen »Wir«, schlagen zwei Seelen in meiner Brust. Ich möchte sofort zurückfragen, wer definiert dieses »Wir«. Zugleich habe ich aber auch eine große Sehnsucht, in die Zukunft zu gucken und zu überlegen, wie könnte dieses »Wir« aussehen. Und dann frage ich mich gleich, wie kann ich und wie kann das Schauspiel Dortmund zu einem positiven, vielstimmigen, vielschichtigen, komplexen, dissonanten, aber spannenden, fröhlichen und freundlichen »Wir« innerhalb der Gesellschaft beitragen. Die Diskussionen, die es gerade um die Idee des »Wir« gibt, werden in meinen Augen von unterschiedlichen Seiten auf ungute Arten und Weisen gehijacked. Deswegen interessiert es mich, einen Raum zu schaffen, in dem »wir« darüber sprechen können, wie wir oder wer wir oder auch was wir sein wollen.
kultur.west: Die Diskussionen, die sie erwähnen, drehen sich um ein Schein-»Wir«. In Wahrheit sind es Ausschlussdebatten.
WISSERT: Genau. James Baldwin fragte, »Muss ich wirklich in ein brennendes Haus integriert werden?«. Ich habe das Gefühl, in einer Zeit zu leben, in der so viel zusammenbricht, dass es tatsächlich Krise als Chance sein könnte. Unsere Zeit bietet die Möglichkeit, uns gemeinsam an den Tisch zu setzen oder erst einmal gemeinsam einen Tisch zu bauen. Wir haben die Chance, zu überlegen, wie dieser Tisch aussehen soll und wie wir an diesem Tisch miteinander umgehen wollen. Das Wort »Integration« missfällt mir persönlich, weil ich den Hintergrund und die Kultur, die ich habe, weder für besser noch für schlechter als die Kultur eines anderen Menschen halte.
kultur.west: Birgt dieses Schlagwort von der »Krise als Chance« nicht auch Gefahren?
WISSERT: So schlimm die gegenwärtige Situation, die ich auf keinen Fall klein oder schön reden will, auch ist, mich inspiriert sie dazu, Gegenentwürfe in den Raum zu stellen. Mein Gefühl sagt mir, dass gerade ein Vakuum entsteht und ein Großteil der Reaktionen darauf eben dieses Vakuum noch vergrößert. Ich möchte es dagegen nutzen, um den Versuch zu wagen, diese Gesellschaft wirklich gleichberechtigt zu gestalten. Dazu gehört auch, Dissonanzen auszuhalten und Unterschiede wertzuschätzen.
kultur.west: Welche Rolle kann das Theater im Rahmen dieses Versuchs spielen?
WISSERT: Das Spannende am Theater ist, dass die Institution genauso ein Kunstwerk sein kann wie die Kunst, die es hervorbringt. Was ich damit meine, ist, dass die Aufgabe von Theater sein könnte, darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam arbeiten und wie wir den Alltag zusammen verbringen. Außerdem können wir am Theater erproben, wie wir uns in Zukunft Leitungsstrukturen vorstellen und wie wir uns gemeinsam über unsere Kultur verständigen.
kultur.west: In dem Theater, das Sie sich vorstellen, verändert sich auch das Verhältnis zwischen dem Publikum und den Künstler*innen aus…
WISSERT: Ja, deshalb liegen mir Formate am Herzen, durch die der gemeinschaftliche Prozess des Theatermachens für das Publikum nachvollziehbar wird. So kann sich vielleicht eine neue Sicht, eine neue Welt, für Menschen eröffnen, die sonst nicht die Gelegenheit hätten, sich in solche Prozesse zu begeben.
kultur.west: Kann uns das Theatermachen etwas lehren?
WISSERT: Die Monate der Vorbereitung, die Wochen der Proben, das alles sind Aushandlungsprozesse, da Menschen mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen und Fantasien zusammenkommen. Wenn man also eins beim Theatermachen lernt, dann ist es, zu verhandeln, Diskussionen zu führen, sich über Welt auseinanderzusetzen und Kompromisse zu schließen. Dabei lässt sich begreifen, warum es vollkommen Okay ist, wenn alle Beteiligten ganz andere Wahrnehmungen von Dortmund als ich haben. Man erkennt die Überschneidungen und die Differenzen in diesen Wahrnehmungen. Deswegen sind Formate so wichtig, die von einer klassischen Ensembleinszenierung weggehen und stattdessen vielleicht mit Bürger*innen aus der Stadt arbeiten. Denn diese Formate sind für die Macher*innen ebenso wie für die Beteiligten Lernprozesse.
kultur.west: Wie lassen sich teilweise über Monate stattfindende Prozesse auf der Bühne in einer vielleicht 90 Minuten dauernden Inszenierung vermitteln?
WISSERT: Das ist eine sehr gute Frage, die sich mit Sicherheit nicht eindeutig beantworten lässt. Es ist wahrscheinlich schon ein wenig eitel, zu sagen, dass diese internen Prozesse auch etwas für das Publikum bringen. Aber ich glaube schon, dass sich diese Denk- und Dialogprozesse in dem abbilden, was auf der Bühne passiert. Sie können wahnsinnig fruchtbar sein, weil sie verhindern können, dass die ganze Zeit immer dieselben Bilder reproduziert werden. Wenn wir auf der Bühne andere Bilder finden, kann sich das Publikum darüber bewusst werden, wen das Theater und natürlich auch die Gesellschaft sonst alles exkludieren und was alles unsichtbar gemacht wird.
kultur.west: Wenn wir über Strategien des Sichtbarmachens sprechen, dürfen wir sicher auch die von Ihnen gegründete Stadtintendanz nicht vergessen.
WISSERT: Ja. Wir haben dieses Projekt initiiert, weil wir die Struktur des Theaters verändern wollen. Die Stadtintendanz soll ein Werkzeug dieser Veränderung sein. Wir wünschen uns einen gestaltenden Beirat, ein Gremium aus Bürger*innen der Stadt, die uns Künstler*innen ein ständiges Feedback geben, die uns mit dem konfrontieren, was die Menschen in Dortmund bewegt.
Vor ihrem Regiestudium bei Amelie Niermeyer am Mozarteum in Salzburg hat Julia Wissert in London ihren Bachelor in Media Arts und Drama gemacht. Schon in dieser Zeit hat sich die 1984 in Freiburg im Breisgau geborene Theatermacherin erstmals mit Performanceprojekten beschäftigt. Nach ihrem Studium in Salzburg war sie als freie Regisseurin unter anderem am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, am Staatstheater Oldenburg und am Schauspielhaus Bochum tätig. Für ihre Wiesbadener Inszenierung »Junge in der Tür« wurde sie mit dem Kurt-Hübner-Regiepreis ausgezeichnet.
Zum Start ihrer Intendanz stellen sich am 24. September mit »17x1« alle Mitglieder des neuen Ensembles dem Dortmunder Publikum einzeln in kurzen, persönlichen Miniaturen vor, die auch einen Eindruck von der Vielstimmigkeit des Ensembles vermitteln sollen.
Einen Tag später stellt sich Julia Wissert dem Dortmunder Publikum mit der Stadtraum-Inszenierung »2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?« als Regisseurin vor. Die Autor*innen Luna Ali, Sivan Ben Yishai, Ivana Sajko, Karosh Taha und Akin Şipal haben Texte über fünf Orte in Dortmund geschrieben, die einen recht dystopischen Blick in die Zukunft werfen, um das sichtbar zu machen, was heute ignoriert wird und verborgen ist. Nach einem gemeinsamen Auftakt im Schauspielhaus wird das Publikum in fünf kleineren Gruppen durch die Stadt gehen, um sie durch die Augen des künstlerischen Teams noch einmal neu zu entdecken.