Bewegungsfreiheit! Frühlingserwachen in Körper und Geist! Gabriel Dunker, den alle – jenseits genderbetonter Diffizilitäten – Gabi nennen, geht im Sommer 1978 auf die Walz. Ins Ungewisse, fort von Mudder, dem verhassten Vadder und den Geschwistern Klaus und Mechthild, fort von der »Verhocktheit« der Gleichaltrigen mit gemeinsamen Besäufnissen, Kiffen, Kuscheln und verschwitztem halbem Sex. Fort vom Gewohnten, Stickigen, Heimeligen, dem das Unheimliche innewohnt. Der 18-Jährige, der die Gesellenprüfung als Dachdecker abgelegt und keine Lust hat, zum Vater weiterhin auch noch Chef sagen zu müssen, verneint für sich die Frage: »Ist das nun die ganze Jugend: Sex und Arbeit?«
Gabi kommt aus dem 1000-Seelen-Ort Wertherbruch/Hamminkeln im Kreis Wesel, nahe beim münsterländischen Bocholt und bis zur Ununterscheidbarkeit damit identisch. Das hat Gabi mit seinem Erzähler Michael Roes gemeinsam und teilt er übrigens mit dem Autor dieses Textes, der allerdings zur evangelischen Diaspora in Bocholt gehörte hat und nicht zur katholischen Majorität mit Messdiener-Erfahrung. Aber wie die Leute hier »schättern und prötteln« und Lokalitäten wie die Osterstraße, das Kino Lichtburg, St. Georg Gymnasium, der nicht ferne Krechtinger Zoo und das Vardingholter Venn sind ihm geläufig – oder die Kirche St. Josef, zu deren Pfarrbezirk die Bewohner*innen der Teutonenstraße gehören, darunter der Handwerkerbetrieb von Hermann Dunker.
So verlässt Gabi die »Gegend meiner selbst« (Jean Genet), um »mit Gunst und Verlaub« eine Mahlzeit und Schlafstatt zu erbitten und dafür seine Dienste anzubieten. Zu den ersten Stationen gehören das Wasserschloss Gemen und ein Kloster der Canisianer.
Gabi ist naiv, schlicht, pfiffig, lästerlich und meistens alles zugleich. Ein humoristischer Charakter, verwurzelt in der Tradition des Entwicklungsromans mit seinen mannigfaltigen Begegnungen, und klar Held eines Schelmenromans. Ein Genre, das Michael Roes schon ausprobiert hat, etwa in seinem Bühnenstück »Madschnun-als Malik, der Narr des Königs«. Aber die literarische Öffentlichkeit kennt ihn vor allem als ethnologischen, mythologischen, erotischen Spurenleser, ob im friderizianischen Preußen, im Jemen, in Afghanistan und Algerien, Israel und Irland oder dem indigenen Amerika; immer ist er dabei ein poeta doctus. In »Spunk« bringt er seine Gelehrsamkeit wie Schmuggelware unter und mischt sie den 22 Kapiteln bei, die so sinnlich deftige Titel tragen wie Pillemann, Schweißmauken, Prütt und Plörre.
Roes lebt seit Studientagen in Berlin, auf dessen Pflaster Gabi – via Helmstedt bis Dreilinden – strandet, um im besetzten Haus einer Kreuzberger WG mit dem schönen schwulen Studenten Said, genannt Pille, einem Halbägypter, zu leben und die Punk-Anarcho-Szene, das SO 36, einen Plattenladen am Moritzplatz oder das Kino Arsenal in der Welserstraße zu entdecken. Hier ist ebenfalls literarische Ethnologie am Werk, während der Leser glaubt, zehn Jahre vor der Wende einen Rio-Reiser-Song zu hören und den Geruch von Braunkohle in der Nase zu haben.
Von Berlin tippelt der Schlacks geografisch wieder rückwärts: Gütersloh, Iserlohn, Menden, um dann über Frankfurt (und ein dortiges Schwulenfestival inklusive anregender Übernachtungsgelegenheit) und Baden-Württemberg Richtung Süden in die Schweiz, bis Italien und Frankreich fortzukommen, wo wir ihn in dem Männerorden von Taizé verlassen. Auf seiner anderen Bildungsreise hören wir Gabi beim Verfertigen seiner Gedanken zu, den unversöhnlichen, die er mit Schmackes herausschießt, und den versöhnlichen.
Gabriel spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und ist selbst ein Sprachforscher und Wortkünstler wie sein Erfinder. Außerdem hat er sein spezifisches Walz-Vokabular, für das Roes ein Glossar anhängt, damit sich nachschauen lässt, dass der »Charlie« eben das Wanderbündel des Gesellen ist und »schaniegeln« für arbeiten steht. »Spunk« ist neben manchem sonst auch ein Kindheits-, Vater-Sohn-, Familienflucht-, Liebes- und Bekenntnis-Roman – und das Abrechnen damit. Dank Gabis galliger Gewitztheit und unverstellt direkter Art bleibt es amüsant, mit dem herzerfrischend lebensklugen Menschenkind unterwegs zu sein, das mit sich ins Reine kommt.
Michael Roes, »Spunk«, Albino Verlag, Berlin 2023, 272 Seiten, 24 Euro