Das »Trio Italiano«, Gitarre, Tamburin, Akkordeon, schrammelt und schmettert einen Schlager um den anderen. Don Adriano Lucato, seelsorgerischer Betreuer der im Ruhrgebiet siedelnden Italiener, müht sich mit reizendem Akzent um Überbrückungssätze. Die blonde junge Dame hinter der Theke der »Heldenbar« wird ihre Schnittchen nicht los. Denn die Hauptakteure des kleinen Eröffnungsfests »Benvenuto Palma di Montechiaro!«, Mitglieder der ins Revier ausgewanderten Familien aus dem »Gattopardo«-Städtchen auf Sizilien, sie kommen und kommen nicht. Auf dem Weg zwischen Mülheim an der Ruhr und Essen sind sie verloren gegangen. Verlust von Schwarmintelligenz vermutlich – Verlust eines Verhaltensdispositivs also, das an diesem »Themenwochenende« im Essener Grillo-Theater im absoluten Mittelpunkt steht. Soll es doch darum gehen, wie die wachsende Fluktuation in den Städten, wie das Zu- und Abwandern, die Transitorik der Gruppen und Cliquen, das Flottieren von Zugehörigkeiten in Begriffe zu fassen wäre. Begriffe, die, jenseits von Klasse, Nation, Ethnie, Generation, eben diesen Momenten von Bewegung und Hierarchielosigkeit Rechnung tragen.
Ging es doch darum, drei geplanten theatralischen Projekten für ihren Start ein wenig theoretischen Schub zu verpassen. Dazu zählt »Ein Dorf wandert«: Bis zum Februar soll aus den Erzählungen der sizilianischen Ruhries von alter und neuer Heimat, von langen Reisen zwischen der Küste von Agrigent und dem Ufer der Ruhr, von den Rückkehrträumen und der Dableibenswirklichkeit etwas für die Bühne Taugliches entstehen, ja will Regisseur Tom Ryser möglichst die Palmeser selbst auf die Bühne bringen. Seit 40 Jahren lebt ein Dutzend Familien aus Palma di Montechiaro dicht beieinander in Mülheim – im Getto? Im Schwarm? Ein weiteres »Stadterkundungsprojekt« ist »Die Stunde Null«, die der deutsch-türkische Regisseur Nuran David Calis 1955 sieht, als die Arbeitsmigration nach Deutschland begann und eine Zäsur historischen Ausmaßes setzte. Auch hier sollen Gespräche mit Zeitzeugen den Ausgang bilden, doch am Ende (Premiere Anfang Mai) soll ein geschriebenes Theaterstück stehen, von Profis gespielt. Während »Flüchtlinge im Ruhestand« zehn schauspielerische Laien, aber Profis eines schweren Lebens auf die Bühne bringen wird: Flüchtlinge aus Bosnien, Birma, dem Irak, der DDR und anderen Ländern (Premiere Mitte März).
Von Schwärmen lernen? Es oblag dem Physiker und Unternehmensberater Heiner Koppermann, auf dem Essener Symposion eine Definition des Begriffs »Schwarmintelligenz« zu geben: Danach folgen die Individuen eines Fisch- oder Vogelschwarms, eines Bienenstocks oder einer Ameisenkolonie ganz wenigen einfachen und starren Regeln; was jedoch in der Summe, im Schwarmganzen zu einem komplexen und veränderten Umständen variantenreich angepassten Verhalten führt. Also eine Form von Selbstorganisation, die ohne Befehlsgeber auskommt – die »Königin« der Bienen ist eine anthropomorphe Metapher, sie bestimmt in Wahrheit nichts. Von Schwärmen lernen? Ja; Computerprogramme sind nach Schwarmgesetzen geschrieben worden, die Routenplanung mancher Speditionsunternehmen funktioniert bereits so: mit vielen simplen kybernetischen Agenten, die per Masseninteraktion das optimale Ergebnis ermitteln. Auch die Suchmaschine Google huldigt der Intelligenz (?) der Masse, ebenso ein Open-Source-Computerprogramm wie Linux. Von der Biologie (Ethologie) ist der Schwarm also längst in die Informatik vorgedrungen; aber schafft er es auch in die Soziologie? Der Managementberater Koppermann schwärmte von der Verantwortung des Einzelnen und von flachen Hierarchien. Gestand aber auch ein, dass die Handvoll einfacher Regeln, nach denen menschliche Individuen im Kollektiv agieren und damit intelligentes Schwarmverhalten hervorbringen könnten, noch nicht gefunden sei. Obwohl, wie etwa der neben ihm auf dem Podium sitzende Berliner Soziologe Erwin Riedmann hervorhob, gerade in gewissen Soziotopen schwarmähnliche Formen der Selbstorganisation zu beobachten seien. Ob nicht zu deren Beschreibung herkömmliche soziologische Modelle ausreichend sind?
Zwanzig Theoretiker und Praktiker aus Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Journalistik – darunter der Sozialphilosoph Rudolf zur Lippe und die Videokünstlerin Danica Dakic – waren im Essener Theater zwischen dem 8. und 11. November aufgefordert, in der Stadt, in Migranten- und Seniorenkreisen, im Berufs- und Wirtschaftsleben den Schwarm und das Social Swarming aufzuspüren. Dabei stellte sich rasch heraus, dass für fast alle anwesenden Wissenschaftler der Schwarm (noch?) kein begriffliches Werkzeug darstellt, auf jeden Fall kein zu propagierendes Dispositiv für menschliches Verhalten. Sei der Schwarm doch das Gegenteil von Kooperation, Individualisierung und Pluralität – ja mehrere warnten geradezu vor einer Romantisierung des Begriffs: »Ein Vogelschwarm sieht nur von unten schön aus«, bemerkte der Berliner Stadt-Ethnologe Wolfgang Kaschuba. Unisono pries man jedoch Bewegung, Vielfalt, Widersprüchlichkeit als Essenz der Stadt und damit Voraussetzung jedweder Innovation. Die Warnung vor wachsender sozialer Segregation als Folge von zu viel oder zu ungesteuerter Bewegung – sprich: Migration – aus dem Munde des Düsseldorfer Politologen Volker Eichener blieb Einzelmeinung. Und stieß auf heftige Kritik seiner Kodiskutanten mit »Migrationshintergrund«, darunter die Journalistin und künstlerische Direktorin der Kulturhauptstadt »Ruhr.2010«, Asli Sevindim. Die »Weisheit der Vielen« (so der Titel eines Schwarm-Theorie-Standardbuchs) schwebte schwärmend über der Tagung. Aber nieder ließ sie sich nicht. Wahrscheinlich wartet sie, bis im Frühjahr die neuen Essener Stadterkundungsprojekte auf die Bühne steigen. Von denen die vergangenen wie die »Homestories« (ein Stück mit Problemstadtteil-Jugendlichen) inzwischen Kultcharakter erlangt haben. www.theater-essen.de