TEXT: ANKE DEMIRSOY
»Fragt ein Freund den anderen: Warum warst Du zwölf Jahre im Gefängnis? Antwort: Ich habe nichts getan. – Das kann nicht sein. Wenn man nichts getan hat, gibt’s nur zehn Jahre.« Diesen bitteren russischen Witz erzählt der Cellist Mischa Maisky manchmal, wenn er gefragt wird, warum er im Sommer 1970 verhaftet und zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt wurde.
Der 22-jährige Jude aus dem lettischen Riga, der zu diesem Zeitpunkt bereits als einer der führenden Musiker der Sowjetunion galt, musste 18 Monate lang in einem Moskauer Gefängnis Zement schaufeln. Vermutlich sollte die Haftstrafe ihn daran hindern, seiner ein Jahr zuvor ausgewanderten Schwester nach Israel zu folgen. Einem befreundeten Arzt gelang es schließlich, ihn durch die Einweisung in eine Nervenheilanstalt vorzeitig zu befreien.
Die großzügige Geldspende eines amerikanischen Mäzens ermöglichte Maisky im November 1972 die ersehnte Emigration. Über Wien reiste er nach Israel, wo der Dirigent Zubin Mehta sein Freund und Förderer wurde. Bald folgten der Gewinn des Gaspar-Cassadó-Wettbewerbs in Florenz und das Debüt in der New Yorker Carnegie Hall.
Trotz der rasanten Dynamik, mit der sich seine Karriere entwickelte, nahm Mischa Maisky 1974 noch einmal Unterricht. Auf Vermittlung seines Lehrers Mstislaw Rostropowitsch verbrachte er vier äußerst intensive Monate als Meisterschüler von Gregor Piatigorsky: ein einzigartiges Privileg. Denn kein anderer wurde je von diesen beiden legendären Cellisten ausgebildet. Maisky hat sie rückblickend als völlig unterschiedliche Temperamente beschrieben, die beide darauf bestanden hätten, dass sie keine Cello-Klone von sich haben wollten. So konnte das Spiel des Schülers zu eigener Größe reifen. Der einstmals Ausgegrenzte und Unterdrückte, der die Musik als Weltsprache begreift, entwickelte eine Stimme, die aus der Kunst nicht mehr wegzudenken ist.
Mischa Maisky strebt kompromisslos nach Intensität. Ein Überdruckkünstler, der oft mit vollem Körpereinsatz spielt, sich förmlich ins Cello hinein gräbt, ohne dabei auf Effekt und Pose zu setzen. Sein Furor dient der Kunst: Im Verbund mit blendender Technik und traumwandlerisch sicherem Gespür für die immanente Klangrede eines Werks, führt dies zu künstlerischen Höhen. Unter der Anspannung einer Konzertsituation kann die Vehemenz zuweilen Intonationstrübungen nach sich ziehen. Aber der Wille zum Wesentlichen, der Maisky auch unter weiß gewordener Lockenpracht unvermindert antreibt, glüht gelegentliche Ungenauigkeiten aus.
Die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach sind ein zentrales Werk seines Repertoires. Er besitzt mehr als fünfzig verschiedene Aufnahmen der Suiten, hat ihren Kosmos als Interpret wieder und wieder durchmessen, auf dem Konzertpodium wie auch im Studio. Im Jahr 2000, zum 250. Todestag Bachs, gab er die Suiten in einem weltweiten Marathon von mehr als 100 Konzerten. Dass er Bach »zu romantisch« spiele, wie manche Barock-Puristen kritisieren, ist ein Vorwurf, den er als Kompliment wertet. Der Ansicht von Vladimir Horowitz, dass Musik per se romantisch sei, schließt Maisky sich letztlich an.
Eine weitere Konstante seiner Vita ist die bereits mehr als drei Jahrzehnte währende Freundschaft mit der argentinischen Pianistin Martha Argerich, die wie Maisky einen Wohnsitz in Brüssel hat. Sie gehört zu den Künstlern, die ihn stets aufs Neue inspirieren. Wer Argerich und Maisky je im Konzert erlebt hat, kann nur staunen über das nahezu blinde Verständnis und die mitreißende Kraft des Duos.
Jetzt ist Mischa Maisky mit dem Residenz Orchester Den Haag zu erleben (Dirigenten Neeme Järvi und im Wechsel Santtu-Matias Rouvali). Er spielt das Cellokonzert von Antonín Dvořák, das sinfonischen Glanz mit einem ebenso beseelten wie effektvollen Solopart verbindet und als Meilenstein der Celloliteratur gilt. Für jemanden wie Maisky, der sich laut eigener Aussage von großen Sängern anregen ließ, dürfte das ruhevolle Adagio mit seinen weit ausgreifenden Kantilenen wie geschaffen sein.
Mischa Maisky und Orchester: 3. Nov. 2011 Philharmonie, Essen; 4. Nov. Eurogress, Aachen; 6. Nov. Philharmonie, Köln; 9. Nov. Tonhalle, Düsseldorf.