Anfang der 1960er Jahre schrieb Marl, damals eine prosperierende Steinkohle- und Chemie-Stadt, ein Stück Architekturgeschichte. Ihr Rathaus-Komplex, nach Plänen von Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Bakema errichtet, ist ein Meisterwerk des Beton-Brutalismus, eine künstliche neue Mitte auf der grünen Wiese. Besonders spektakulär: Deutschlands erste »Hängehochhäuser«, deren Stockwerke an massiven Beton-Ankern hingen. Als »visionär und ultra-modern« wurde das Rathaus damals gelobt. »Marl ist das deutsche Klein-Brasilia«, schrieb der Schriftsteller Horst Krüger 1968 und sprach vom »Geist der Vernunft in Beton«.
Parallel baute die Stadt eine Kunstsammlung auf, erwarb Skulpturen renommierter zeitgenössischer Künstler, so dass 1982 im Erdgeschoss unterhalb des Rathaus-Sitzungssaals das Skulpturenmuseum eröffnen konnte. Der »Glaskasten« gewährte großzügig Einblick in die Ausstellung und verband die kleineren Werke im Museum mit den vielen großen im umliegenden Skulpturenpark und rund um den City-See. Marl wurde zur Stadt der Skulpturen.
Erste Bauschäden zeigten sich allerdings schnell, und ein halbes Jahrhundert später war eine Komplett-Sanierung des Rathauses, inzwischen ein Baudenkmal der Ruhrmoderne, unausweichlich. Bund und Land gaben Geld, jedoch mit ihren Fördermitteln auch die Bedingungen vor: Der Glaskasten, der bisherige Museumsstandort, muss zu einer Begegnungsstätte werden. Statt offener Kunst demnächst also offene Kinder- und Jugendarbeit, Raum für Vereine und Initiativen.
Das Skulpturenmuseum sollte in das nahe gelegene Gebäude einer ehemaligen Schule ziehen. Die liegt direkt am Skulpturenpark, ist aber ebenfalls stark sanierungsbedürftig. Nach dem bereits beschlossenen Umbau jedoch sollte sie zu einem Bildungszentrum werden, in dem Stadtbücherei, Veranstaltungsräume und Teile der Volkshochschule unterkommen sollen – und das Skulpturenmuseum, mit mehr Platz für Bildung und Vermittlung, Depotfläche, Künstleratelier und sogar einem Museumscafé. »Marschall 66« heißt das ambitionierte Projekt, benannt nach dem Architekten und dem Baujahr der denkmalgeschützten Schule.
Aussichten, mit denen Museumsdirektor Georg Elben sich gut arrangieren konnte. Dafür nahm er auch die mindestens drei Jahre währende Übergangszeit bis zur Fertigstellung in Kauf und zog mit seinem Museum in fünf eigentlich dem Abriss geweihte Klassenzimmer einer Gesamtschule im drei Kilometer entfernten Marl-Hüls. Dort sitzt er nun – auf unbestimmte Zeit. Denn der Rat der Stadt hat das längst beschlossene Projekt »Marschall 66« gestoppt. Und das hat wiederum mit der Rathaussanierung zu tun.
Die Arbeiten am Rathaus sind inzwischen weit fortgeschritten – und die Kosten auch. Wiederholt musste der Stadtrat weitere Mittel freigeben, zuletzt rund 8,2 Millionen Euro. Insgesamt wird die Sanierung nach derzeitigem Stand mit 87 Millionen Euro zu Buche schlagen – das ist mehr als doppelt so viel wie 2017 kalkuliert. »Wir rechnen bei unseren Bauprojekten aktuell mit Preissteigerungen bis zu 30 Prozent«, sagte Marls Baudezernentin Andrea Baudek im Oktober 2022. »Das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange.«
Am anderen Ende der Fahnenstange liegt das Skulpturenmuseum – es ist im doppelten Sinn ein Opfer der Rathaussanierung. Nicht nur, dass es seine angestammte Adresse verloren hat, inzwischen hat den Rat der Stadt der Mut zu großen Investitionen verlassen. Denn noch bevor auch nur ein Bauzaun aufgestellt wurde, steht fest: Auch »Marschall 66« soll teurer werden als geplant, 22 statt 15 Millionen Euro. Mitte Dezember sprachen sich die Kommunalpolitiker*innen gegen die Beschlussvorlage »Kostensteigerung Weiterbau Marschall 66« aus. Ein zweites Sanierungsprojekt mit explodierenden Kosten wollte sich die Politik nicht leisten.
Bürgermeister Werner Arndt (SPD) war verzweifelt, legte Widerspruch gegen den Beschluss ein und setzte kurzfristig eine weitere Sitzung an, um die Abstimmung zu wiederholen. Schließlich drohten 10,9 Millionen Euro Fördermittel zu verfallen. Zwei Tage vor Heiligabend kamen die 42 Ratsmitglieder erneut zur Sitzung in der Gymnastikhalle der Ernst-Immel-Realschule zusammen. Werner Arndt fand in seiner Eingangsansprache deutliche Worte: Der Verzicht auf »Marschall 66« wäre aus städtebaulicher Sicht kontraproduktiv, kulturpolitisch fatal, finanzpolitisch sinnfrei und ein irreparabler und gewaltiger Imageschaden, so Arndt. Doch es nutzte nichts – mit denkbar knapper Mehrheit von nur einer Stimme beschloss der Rat erneut das Aus für »Marschall 66«. Die Politiker argumentierten, sie handelten verantwortlich und im Auftrag ihrer Wähler. Ausufernde Kosten »spalten die Gesellschaft und sind Auftrieb für die Populisten in unserem Land«, so ein Vertreter der CDU. Am 22. Dezember, 19.05 Uhr, schloss Bürgermeister Arndt die Sitzung.
Seitdem ist die Zukunft des Skulpturenmuseums ungewiss – und, da hatte der Bürgermeister Recht, das kleine Marl landesweit negativ in den Schlagzeilen. Bei Museumsleiter Georg Elben haben sich viele Künstler mit Solidaritätsbekundungen gemeldet – und auch Sammler, die damit drohen, ihre Arbeiten abzuziehen. »Mit Entsetzen und großer Sorge« nahm das Netzwerk der RuhrKunstMuseen die Nachricht auf und appelliert in einem offenen Brief, einen neuen Beschluss herbeizuführen. Auch der Museumsverband NRW nennt einen neuen Ratsbeschluss »unausweichlich«. Marls kultureller Ruf verdanke sich ganz wesentlich seinem Museum, heißt es vom Verband der Kunstmuseen in NRW, »die Zukunft des Museums an den Kosten scheitern zu lassen, wäre in der Geschichte der Bundesrepublik ein bislang einmaliger Vorgang, den es zu verhindern gilt.«
In ganz NRW stehen Projekte auf dem Prüfstand
Könnte die Entscheidung einen Dammbruch bewirken, könnte sich der »Fall Marl« überall wiederholen? Bau- und Sanierungskosten steigen bundesweit, während die baulichen Anforderungen an Energieeffizienz und Nachhaltigkeit wachsen. Der bloße Erhalt historischer, denkmalgeschützter Gebäude lässt auch weniger finanzschwache Kommunen ächzen: In Köln muss das denkmalgeschützte Museum für Angewandte Kunst (MAKK), erbaut 1957, saniert werden, die Kosten werden auf mindestens 31,5 Millionen Euro geschätzt. Bereits saniert sind die 270 Fenster – hier waren die Kosten von 3,7 auf 9,6 Millionen Euro gestiegen.
In Bochums historischer Post entsteht ein »Haus des Wissens«, das in zentraler Citylage Stadtbibliothek, Volkshochschule, eine Markthalle sowie Angebote der Hochschulen integriert. Die Kosten stiegen zuletzt um 50 Millionen auf 153 Millionen Euro – mit Genehmigung des Rates. Und das Bonner Beethoven Orchester wartet seit sieben Jahren auf seine Beethovenhalle. Aus 61 wurden 222 Millionen Euro Sanierungskosten, die Fertigstellung verschiebt sich seit 2019 – inzwischen geht man von Ende 2025 aus. Einige Kilometer rheinabwärts, in Köln, wird sogar schon seit 2012 an Oper und Schauspiel gebaut, die Kosten stiegen um weit mehr als das Doppelte auf 674 Millionen Euro.
Böse Überraschungen im Altbestand, strenge Vorgaben im Vergabeverfahren, fehlende Bieter bei Ausschreibungen, Schlechtleistungen von Firmen, Insolvenzen: Gründe für Verzögerungen und Verteuerungen gibt es viele, einfache Lösungen keine. Bauen mit öffentlichem Geld war schon immer kompliziert, nun kommen die allgemeinen Kostensteigerungen dazu. »Kaum ein Projekt lässt sich zu den früher kalkulierten Kosten realisieren. Das ist bei Vorhaben, die mit Fördergeldern realisiert werden, eine zusätzliche Herausforderung, weil Förderprogramme von EU, Bund und Ländern diese Kostensteigerungen nicht einpreisen. Die steigenden Kosten gefährden in vielen Städten sowohl die Fertigstellung von laufenden Vorhaben als auch den Neubeginn von Bauvorhaben aller Art«, sagt Helmut Dedy, Geschäftsführer des Städtetags NRW.
Aus diesem Grund hält Tilmann Bruhn, Geschäftsführer des neu gegründeten Museumsverbands NRW es für unabdingbar, Förderstrukturen dynamischer zu gestalten. »Damit Marl kein Präzendenzfall wird, brauchen wir im Zuwendungswesen Spielräume oder Härtefallregelungen bei makroökonomisch bedingten Effekten wie dem steigenden Baupreisindex«, fordert er. »Es geht jetzt darum, aus Marl zu lernen. Der Fall verweist außerdem auf ein strukturelles Problem, nämlich die Altschulden der Kommunen. Hier müsste sich gerade der Bund stärker in der Pflicht sehen.«
Wenn »Marschall 66« tatsächlich nicht gebaut würde – »ich glaube nicht, dass das Skulpturenmuseum dann überhaupt noch eine Chance hätte«, sagt Elben. Ein Museumsneubau wäre schließlich noch teurer als jeder Umbau. Er baut auf einen neuen, dann dritten Ratsentscheid. Direkt hinter dem Glaskasten am Marler Rathaus steht die Installation »Tor zu Baalbek«, acht eng zusammenstehende dunkle Säulen, die den Einlass verwehren zu etwas, das allerdings gar nicht mehr da ist. Der Schweizer Künstler Carl Bucher schuf sie 1977 als Kommentar auf den libanesischen Bürgerkrieg – für ihn sind die funktionslosen, wehrhaften Säulen Ausdruck eines kulturellen Gedächtnisses, das gegen seine Auslöschung ankämpft. Einen besseren Standort hätte man für diese Arbeit wohl nicht finden können.
Zum Bauprojekt Marschall 66 hat der K-West Verlag ein Magazin produziert. Zum kostenlosen Download geht es hier entlang: