»Ein jeder nimmt sein Geheimnis mit ins Grab, wie es ihm möglich war zu leben.« So Hugo von Hofmannsthal. Ein Wort, das für den Künstler besonders zu gelten scheint, obwohl und weil er das Lebensmögliche und Lebensunmögliche etwa an seine literarischen Figuren delegieren kann. Für Thomas Mann trifft dies in einem noch höheren Maße zu.
Bereits auf den ersten Seiten des Romans »Der Zauberer«, der im Jahr 1891 in Lübeck einsetzt, belauschen wir den heranwachsenden Tommy in seiner Kopfwelt, bei seiner Einbildungskraft und dem ihn »erschaudern« lassenden Gedanken, was geschähe, wüssten die Menschen seiner Umgebung, »wer er wirklich war«. Das Motiv des Hochstaplers klingt da ebenfalls an, der indes auch ein Glückskind (»Felix«) ist; ebenso wie der Gedanke, dass dies alles sich in ihm vollzieht um des »gesteigerten Daseins« willen.
Colm Tóibín, der bereits einen Roman über Henry James verfasst hat, porträtiert, fantasiert, amalgamiert nach dem Meister des 19. Jahrhunderts nun den des 20. Jahrhunderts: den Bürger, Unpolitischen, ironischen Deutschen, Weltbürger und Leistungsethiker, den Repräsentanten menschlicher Gesittung und Märtyrer seines Fühlens. Verfall. Das Wort blickt den Leser zu Beginn des Buches an, das damit Anschluss sucht an die »Buddenbrooks«, mit denen Thomas Mann um die Jahrhundertwende 1900 zum bedeutenden Autor, der Künstler zum Großbürger und zum »notorischen Villenbesitzer« wurde, wie es von ihm hieß. Lübeck, München, Venedig, die Schweiz, das südfranzösische Sanary und weitere Irrwege des Emigranten, die USA und schließlich die Heimkehr nach Europa, aber nicht nach Deutschland – dies der Lebensradius. Tóibín muss mit den Jahren großzügig umspringen, so wie die Kranken auf dem »Zauberberg« es tun, und hangelt sich gleichsam an der Biografie entlang – wäre nicht ein originellerer Zugriff als der chronologische denkbar gewesen? Man kann nicht sagen, dass der Autor den Stil von Thomas Mann nachahmt, wohl jedoch, dass er in dessen Geist schreibt, wenn er etwa die verliebte Leidenschaft Tommys für Armin Martens aus der Beziehung Tonio Krögers zu Hans Hansen heraus schildert.
Thomas Manns Angst vor Entwurzelung seit dem frühen Tod des Vaters und Firmenchefs, seine maskenhafte Reserviertheit, um das Eigene und Eigentliche unter Verschluss zu halten, die Angst vor dem Blick der Anderen, dass sie ihn durchschauen und sein Begehren erkennen, bilden Grundmotive. Der vier Jahre ältere Heinrich hat diesen Scharfblick, was neben den politischen Differenzen die Katastrophe ihrer Brüderlichkeit mitbestimmt.
Thomas Manns Faszination für die freigeistige Katia in ihrer praktischen Intelligenz und intellektuellen Selbständigkeit und für deren Zwillingsbruder Klaus schildert Tóibín als eine Art erotischer Initiation und bricht dies im Spiegel der Literatur von Thomas Mann – der Novelle »Wälsungenblut«. Die Familie Mann, unsere demokratische Ersatz-Monarchie, verlangt – und das Buch löst es ein –, dass auch Heinrich, Katia und ihre märchenhaft reiche Pringsheim-Welt, die eigenwilligen, sternschnuppenhaften Klaus und Erika sowie der mit sich und den Seinen herb-strenge Golo Mann zu Porträts sich ausbilden. Amouröses Durcheinander und die nicht einmal durch Ferne und Tod endenden Eltern-Kind-Konflikte und emotionalen Erschütterungen sind Konstanten dieses Schriftsteller-Lebens.
Tóibín gelingen das seelische Untertage ausleuchtende, innige Passagen: die Hunger- und Krisenjahre im und nach dem Ersten Weltkrieg, wenn das deutsch Geistige in Thomas Manns Wesen mit der Kultur des Nationalen verschmilzt, um sich dann allmählich in demokratische Gesinnung zu wandeln. Sein Empfinden des Fremdseins in der geschichtslosen Gegenwart der USA, wenn er des Nachts unterwegs zu seinem Wohnsitz in Princeton chauffiert wird. Es finden sich feine Miniaturen wie der Moment, wenn Thomas Mann auf dem Grundstück seines Hauses im kalifornischen Pacific Palisades einen Granatapfelbaum sieht und sich erinnert an seine aus Brasilien stammende Mutter Julia, die den Fruchtsamen in Lübeck auf den Tisch gebracht hatte, die Selbstbetrachtung beim Hören von Beethovens Streichquartett Opus 132 oder der letzte Besuch in Lübeck mit einer Bach-Buxtehude-Fantasie.
Dichtung und Wahrheit, sie sind im »Zauberer« mit viel Bitteraroma vermischt. Thomas Mann, der sich selbst – mit mindestens drei Stoffen – in die Goethe-Nachfolge hineinschrieb, wurde sich selbst anekdotisch und legendär.
Colm Tóibín, „Der Zauberer“, Aus dem Englischen von Giovanni Bandini, Carl Hanser Verlag, München 2021, geb., 557 Seiten, 28 Euro
Lesung am 21. Oktober, 19.30 Uhr, Buchhandlung Bittner, Köln