Eine Scheinexistenz. Julius probiert Rollen wie Kleider. Max Frisch hätte ihn ersinnen können: projiziert in die Zukunft, die unsere Gegenwart ist.
Julius ist ein Erfinder – seiner eigenen Biografie. Ein Geschichtenerzähler und ein Wortführer. Jemand, der bei Anderen den Kurs vorgibt und sich beliebt macht. Ein angenehmer junger Mann, gutaussehend, wohlerzogen, redegewandt. Vielleicht begabt. Und ist sich dabei selbst sein Feind und in sich verloren gegangen. Er hat sich im Griff, mit dem was er sagt und tut, oder eben gar nicht. Zu viel Imagination, zu wenig Wirklichkeit. Er manipuliert, aber hat nicht die Fähigkeit, sich zu kontrollieren. Nicht mal das Zimmer in der WG kann er sich leisten und muss raus da. Aber er hat ja andere Pläne…
Julius präsentiert Absichten, sammelt Leute ein, stellt Situationen her, um sie nach Belieben umzuwerfen und abzubrechen, wie beim Ausflug an den Ruhr-See, der kurz vor Besteigen des ‚familieneigenen’ Segelbootes sozusagen ins Wasser fällt, indem er einen epileptischen Anfall simuliert. Er produziert sich und provoziert damit. Wenn man ihn festnageln will, redet er sich raus, macht Ausflüchte, flunkert, es sei ein Missverständnis gewesen.
Die Freundin, von der Julius seiner Mutter erzählt, gibt es tatsächlich. Sie studiert Gesang. Wir sehen und hören sie bei Proben als Gräfin in Mozarts »Figaro«, wenn sie die Arie Porgi Amor singt. Bei ihr führt Julius eine Architekturfirma. Er schleicht sich sogar in ein Büro ein und suggeriert, er sei ein Kollege. Oder er fingiert Telefonate, gaukelt ein Stipendium in Japan vor. Wenn man ihn auf etwas festlegen oder zur Rede stellen will, zieht er sich aus der Affäre, nimmt Reißaus, bricht Beziehungen ab wie der Mann, der Zigaretten holen gehen will und niemals zurückkehrt. Und wechselt danach in die nächste Konstruktion. Der Lebenslauf als Momentaufnahme und Wechselfall.
»Axiom« heißt Jöns Jönssons filmische Studie, die vermutlich den Typus Julius zu einer Zeitfigur erklären will. Beim Axiom handelt es sich um einen Grundsatz für eine Theorie oder ein wissenschaftliches System, der nicht begründet oder deduktiv abgeleitet wird, sondern vorausgesetzt und als gegeben akzeptiert ist. So wie Julius seine jeweilige Existenz. Die Position des Regisseurs und der Kamera in »Axiom« sind die eines Außenstehenden. Sie schauen Julius von einer objektiven Position zu, stellen sich nicht mitten hinein ins Geschehen. Es ist ein Blick, den wir von Michael Haneke kennen.
Moritz Treuenfels stellt Julius, den Mann ohne Eigenschaften, ruhig und scheinbar im Ausgleich mit sich dar, allein, wir ahnen hinter dem Gleichmit die Tortur, die ihm die Erfahrung der Nichtigkeit und des Nichts bereiten muss, wie einsam er sich fühlt unter immer neuen Menschen. So lässt der Film ihn zurück – mit sich allein unter Vielen.
»Axiom«, Regie: Jöns Jonsson, D 2022, 110 Min., Start: 30. Juni