Auf dem Bild ist ein junger Mann zu sehen, der etwas scheu und dabei doch posierend von der Seite in die Kamera blickt. Nur wer weiß, was kurze Zeit nach der Aufnahme geschehen wird, mag in den Gesichtszügen mehr als nur einen leichten Anflug von Reserviertheit erkennen wollen. Der Mann steht in einem schmalen, nach hinten dunkel zulaufenden Kellergang. Die Haare fallen ihm bis über die Ohren, auf dem engen T-Shirt steht: »Buddy Holly«. Durch die über die Schulter gehängte Stechuhr ist er leicht als Pförtner zu erkennen. In der linken Hand hält er mit fast nachlässiger Eleganz eine Zigarette. Auf die unverputzte Wand neben ihm hat jemand eine Telefonnummer und den Namen »Zewa Moll« notiert, vermutlich nachträglich direkt auf das Bild. Das Foto zeigt Wolfgang Welt, aufgenommen in den Tagen, die sein Leben verändern sollten, auf einem Rundgang durch die Ruhrlandhalle, an seinem Arbeitsplatz, kurz nach seinem 30. Geburtstag. Es findet sich auf dem Cover der längst vergriffenen so genannten »Bochumer Ausgabe« seines Romans »Peggy Sue«, den Welt gegen Ende des Gesprächs plötzlich aus einem der vielen Schränke an der Rückwand der Pförtnerloge des Bochumer Schauspielhauses heraussucht, um es mit Widmung versehen dem Besucher zu schenken. »Als Erinnerung an einen denkwürdigen Abend. Herzlichst W. Welt« steht nun auf der ersten Seite.
In den beiden Stunden davor, während vor der Loge Schauspieler, Dramaturgen und der große Hund von Hans Diehl vorbeilaufen, hat sich Wolfgang Welt sehr genau an eben diese Tage im Januar 1983 erinnern können. Ihm sind eine Menge Details im Gedächtnis geblieben, obwohl er doch damals ein andrer, nämlich J. R. Ewing gewesen ist. Wie er, nur ein paar Kilometer entfernt auf der Bochumer Wilhelmshöhe wohnend, im Novotel eincheckt, das Zimmer verlangt, in dem am Wochenende zuvor der überregional bekannte Theaterkritiker Benjamin Henrichs geschlafen hatte. Wie er dann ein Telex an dessen Arbeitgeber, die ZEIT, schickt, in dem er der Redaktion ankündigt, Ihr das Script der letzten Folge von »Dallas« übermitteln zu wollen. Wie er sich im Foyer seine blauen Wildlederschuhe auszieht, rüber in die Hotelbar schlendert, ein Vorstandsmitglied des VfL Bochum mit Namen Schweinsberg sieht, diesen für einen Metzger hält und fragt: »Setzen Sie ’ne halbe Sau, daß ich J.R. bin?« Wie er eine Ausgabe der WAZ in den Kühlschrank legt, um sie gefroren als Waffe benutzen zu können. Wie er dann mit dem Taxi zur Universität fährt, sich von Reportern der Bild- Zeitung verfolgt fühlt und in einem Klavier versteckt nach Köln flüchten will. Später sollte Welt sich noch für Brecht und seine Mutter für Marilyn Monroe halten, eine Wohnungstür eintreten, in einer Tchibo-Filiale randalieren, bis man ihn endlich in eine Klinik einliefert. Aus der er zwei Monaten später als nicht geheilt entlassen wird. Doch mit der sarkastisch anmutenden Empfehlung seitens der behandelnden Ärztin, die Geschichte seiner Manie aufzuschreiben.
Jetzt, 23 Jahre nach dem Zusammenbruch, in denen er zunächst als Nachtpförtner in der Ruhrlandhalle, dann fünf Jahre im Bochumer Rathaus und seit fünfzehn Jahren im Schauspielhaus seiner Heimatstadt arbeitet, erscheint diese Geschichte unter dem Titel »Der Tunnel am Ende des Lichts« zusammen mit den bereits andernorts veröffentlichten, älteren Romanen »Peggy Sue« und »Der Tick« unter dem Titel »Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe« Ende des Monats im Suhrkamp Verlag. Genugtuung ist wohl noch ein zu kleines Wort, um zu beschreiben, was Welt diese Veröffentlichung in ausgerechnet diesem Verlag bedeutet. Er hat einen Ausdruck des Covers dabei. Es liegt mit ein paar anderen Belegen seiner Schriftsteller-Existenz in dem besagten Schrank in der Pförtnerloge, aus dem er später neben »Peggy Sue« auch noch eine Literaturzeitschrift hervorziehen wird, die eine seiner Kurzgeschichten abgedruckt hat. Auf der Rückseite des Suhrkamp-Covers stehen Zitate von Peter Handke und Rainald Goetz. Ersterer hat Welt nach gescheiterten Versuchen letztendlich dann doch noch zu Suhrkamp gebracht. Letzterer hat möglicherweise ungewollt verhindert, dass Welt schon vor zwanzig Jahren dort verlegt wurde. Denn als Welt dem Verlag nach seiner Entlassung die »Geschichte seiner Manie« anbietet, wird diese mit dem Verweis auf den hervorragenden »Psychiatrie-Roman« von einem Arzt, der in München als »Dr. Punk« gehandelt werde, abgelehnt. Also erscheint von Dr. Punk Rainald Goetz 1983 der Roman »Irre« und von Wolfgang Welt erst einmal nichts.
Trotzdem setzt sich Welt nach der Entlassung nachmittags in seine Mansarde, vor den Nachtschichten, und schreibt die ersten 50 Seiten seiner Lebensgeschichte nieder.Der ihm bekannte Suhrkamp-Lektor Müller- Schwefe, dem er den Text dann schickt, ermutigt ihn, ohne Welt aber ins Programm nehmen zu können. Souverän sei der Erzählstil. Und: Machen Sie weiter. Also bringt Welt sein Leben zu Papier. Da ist es nur konsequent, dass die Ablehnung von Kiepenheuer & Witsch dann auch beides betrifft, das Buch und den Menschen. Der Text sei genau so armselig wie das Leben, das er führe, wird ihm beschieden. Welt findet das heute sehr komisch. Man möge sich das bitte mal vorstellen: ausgerechnet die Lektorin Rolf Dieter Brinkmanns musste ihm das sagen.
»Etwa zwei Jahre nach unserer ersten Begegnung machte mir Sabine am Telefon Aussicht auf einen Fick, allerdings nicht mit ihr selber, sondern mit ihrer jüngeren Schwester.« So beginnt dann 1986 Welts Roman »Peggy Sue«. Auf den Einstieg kommt es an. Sagt Welt. Eingefallen sei ihm dieser Satz während einer Vorlesung über Samuel Beckett, die er nach der Entlassung aus der Klinik wieder pro forma besucht. Und so ähnlich geht _ Peggy Sue« dann auch weiter: Damit, dass Welt fast zwanghaft daran denken muss, alle möglichen Frauen flach zu legen. Sie heißen Ute, Barbara, Christiane oder eben »Zewa Moll«, haben mal große oder kleine Brüste und in den Augen ihres interessierten Betrachters fast immer einen unattraktiven, langweiligen Freund. Fast protokollarisch und Erlebtes eins zu eins übersetzend, schildert Welt den Anfang seiner kurzen, durchaus viel versprechenden Karriere als Popschreiber, den Beginn seines Aufstiegs zum »wichtigsten Musikjournalisten des Ruhrgebiets«.
Das klingt unbescheiden, durch die herausgehobene Provinzialität auch ein bisschen komisch, und es will nicht so recht zu Welt passen, wenn man sieht, wie er, während er erzählt, in der Pförtnerloge auf und abgeht _ oder auf dem Schreibtischstuhl Karussell fährt. Vielleicht ist man aber auch deshalb irritiert, weil, wer das Buch bis zu Ende gelesen hat, rückblickend nur noch Symptome sieht? Weil spätestens jetzt, mit Erscheinen von »Der Tunnel am Ende des Lichts«, Leben und Krankheit in eins fallen könnten.
Schnell arbeitet sich Welt als deutscher Hunter S. Thompson vom Ruhrgebietsmaga-_ zin Marabo zu den überregionalen Musikmagazinen hoch, mit subjektiven, rücksichtslosen, provokanten Reportagen und Rezensionen. In Heinz Rudolf Kunze erkennt er früh eine »Art singenden Erhard Eppler«. Den Schwermetallern von Motörhead, die er im Auftrag des Musikexpress 1982 auf ihrer Tournee begleitet, demontiert er am Ende der Reportage ihr Böse-Jungs-Image: »Jede Mutter würde sich einen der drei als Schwiegersohn wünschen (bei entsprechender Kleidung).Nur Lemmy, warum macht ihr eigentlich so schreckliche Musik?!« Doch der Name Wolfgang Welt bleibt nur für kurze Zeit eine popjournalistische Marke.
Vom Schreiben kann er selbst auf dem Höhepunkt der kurzen Karriere Anfang der 80er Jahre kaum leben, weshalb er auch wieder bei den Eltern einzieht. So kann Welt nach Amsterdam reisen, um Lou Reed zu interviewen, und am Wochenende auf dem Fußballplatz des SUS Wilhelmshöhe herumhängen. Zuhause ist er übrigens bis heute nicht ausgezogen.
Und obwohl Welt dank seines ungesunden Lebenswandels eigentlich genau so ist, wie die Musikindustrie ihre Helden am liebsten sieht, hat man doch immer das seltsame Gefühl, dass er in dieser Branche nur auf Abruf zu Gast ist. Ein Gast, auf den bei Rückkehr Mutters selbst gebackener Geburtstagskuchen wartet. »Ich wollte nie raus«, sagt Welt heute. »Meine Arbeit im Pop-Geschäft war kein Ausbruchsversuch. Meine Reisen waren eher kleine Abstecher. Ich wollte immer zuhause bleiben.«
Nach Ausbruch seiner manischen Depression waren diese Abstecher dann vorbei.
Wolfgang Welt hat als Journalist nicht wieder Fuß fassen können, oder es nicht wollen. »Es hat sich einfach nicht ergeben«, sagt er heute. Dabei spricht aus ihm keineswegs enttäuschte Ambition. Eher das Gegenteil: mangelnde Anspannung. Oder: ein Hang zur Unaufgeregtheit, der ohne äußere Zwänge wie ein auf Verträge sich berufender Verlag oder ungeduldige Kritiker schwer zu disziplinieren ist. Doch von den Jahren, in denen Welt nicht »den richtigen Dreh« findet, in denen er abwartet und hier und da eine kleine Geschichte veröffentlicht, handeln seine Romane nicht. In ihnen geht es ausschließlich um die fünf goldenen, intensiven Jahre, die 1983 abrupt enden, aber in keiner Zeile verklärt werden. »Die Frage ist doch, ob man über unaufregende Dinge überhaupt schreiben sollte«, sagt Welt und scheint eben diese für sich schon beantwortet zu haben. Tatsächlich bleibt abzuwarten, ob, wenn Welt sein Lebens-_ protokoll fortführen sollte, er sich in seinem Verfahren treu bleiben kann: »drauflos tippen und alles schreiben, was mir auffällt.« Mittlerweile ist es sehr ruhig geworden vor der Pförtnerloge. Die Vorstellung ist beendet, in der Kantine kaum mehr Betrieb. Früher, als Leander Haußmann hier noch Intendant gewesen ist, war das nicht so. Weshalb Welt im März 1996 auch einen Brief an Ute Canaris geschrieben hat: »Ich dachte, ich könnte während Leander Haußmanns Intendanz _ eine ruhige Kugel schieben, aber Pustekuchen.
Bis vier, fünf Uhr ist jede Nacht Betrieb in der Kantine. In der letzten Stunde muß ich noch einen Rundgang machen, bei dem ich nicht selten in Haußmanns Büro den Flipper und den Sender VIVA im Fernsehen ausschalten muß. Ich krieg meinen zweiten Roman so nicht auf die Reihe.« Angeschlossen war dem die Bitte um den Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum. Natürlich hat Welt den Preis nicht bekommen, nicht mal eine Antwort. Aber Stadtverwaltungen zeichnen sich eben selten durch Witz aus.
Am Abend des Gesprächs mit Welt stand übrigens der fünfte Teil des Projektes »Die Boten« auf dem Programm des Schauspielhauses. Die Boten, so heißt es erklärend dazu, »sind Menschen, die eigentlich nicht hier sein können, weil sie keine Zeit haben. Sie sind beschäftigt, und man kann andernorts schlecht auf sie verzichten. (…) Die Boten kommen trotzdem.« So wie Wolfgang Welt, der jeden Abend zum Dienst in der Pförtnerloge erscheint, obwohl er eigentlich als Schriftsteller keine Zeit dafür hat.
Deshalb hat es auch lange gedauert, bis er sein – wie er sagt – »Lebensziel« erreicht hat: den »Suhrkamp-Deal«. Jetzt, wo der geklappt habe, sei er nicht unzufrieden mit sich. »Es kommt nur zwanzig Jahre zu spät.«
Wolfgang Welt, Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe, Suhrkamp, 491 Seiten, 15,- Euro