Interview: Andrej Klahn
Überrascht sei Wolfgang Kubin gewesen, als ihm in diesem Jahr der Staatspreis der Volksrepublik China für seine Verdienste um die chinesische Literatur zugesprochen wurde. Nicht, dass es an guten Gründen für eine Auszeichnung fehlte. Der 1945 in Celle geborene international renommierte Professor für Sinologie an der Universität Bonn ist Verfasser zahlreicher Abhandlungen und Herausgeber einer monumentalen, auf zehn Bände angelegten »Geschichte der chinesischen Literatur«. Kubin hat viele chinesische Autoren übersetzt und in Deutschland bekannt gemacht, sich bisweilen sogar an den Kosten für ihre Veröffentlichung beteiligt. Nebenbei arbeitet er auch noch an seinem eigenen literarischen Werk. An Kenntnis und Idealismus mangelt es also nicht, wohl aber an Einverständnis mit der Entwicklung, die die chinesische Gegenwartsliteratur vor allem in den letzten 15 Jahren genommen hat. So äußerte sich Kubin wiederholt kritisch über deren Zustand, was in China große Beachtung gefunden hat; und er ist Übersetzer u.a. von Bei Dao, der zurzeit mit einem Einreiseverbot belegt ist. Deshalb war die Auszeichnung, die bis dato erst ein Mal verliehen worden ist, nicht unbedingt zu erwarten. Im November folgt ihr mit dem Pamir International Poetry Price der bedeutendste Literaturpreis des chinesischen Sprachraums. Die mit 8.000 Euro dotierte Ehrung wird von der Pamir Investment Group gestiftet, die auch die Erforschung der modernen chinesischen Dichtkunst an der Beijing- Universität unterstützt. Ihr Direktor, Huang Nubo, selbst Schriftsteller, sei für die chinesischen Dichter der gute Mensch von Peking, so Wolfgang Kubin. Anlässlich ihres ersten Zusammentreffens habe Huang Nubo Kubin anvertraut, dass China heute drei für das Wohl des Landes unverzichtbare Dinge fehlten: die Moral, das Recht und die Poesie.
K.WEST: Sie haben zahlreiche chinesische Dissidenten übersetzt. Es liegt nahe, Ihre Auszeichnung mit dem Staatspreis auch als Zeichen an die deutsche Öffentlichkeit zu verstehen. Wollte China sich durch die Verleihung im Rahmen der Pekinger Buchmesse, bei der Deutschland Gastland gewesen war, als weltoffene Literaturnation schmücken?
KUBIN: Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass es in der kommunistischen Partei immer nur eine Meinung gibt. Mal ist die eine Stimme lauter, dann wiederum lässt sich eine andere deutlicher vernehmen. Bei Dao darf seit zwei Jahren nicht nach China einreisen. Das hindert einen Minister aber nicht, mich in der Großen Halle des Volkes anlässlich der Preisverleihung auf Deutsch, Englisch und Chinesisch vor 2.000 Anwesenden als Übersetzer Bei Daos vorzustellen.
K.WEST: Sie haben im letzten Jahr die chinesische Gegenwartsliteratur für ihren Mangel an Qualität kritisiert und in der Volksrepublik eine breit und kontrovers geführte Diskussion ausgelöst. Offensichtlich scheinen Sie einen wunden Punkt getroffen zu haben.
KUBIN: China ist politisch und wirtschaftlich unbestritten eine Weltmacht. Seitens der Kulturpolitik wird nun auch noch behauptet, dass das Land auch eine literarische Großmacht sei. Das stimmt nicht. Dennoch gibt es eine große Erwartungshaltung an die Schriftsteller, gerade bei denjenigen, die sich nicht für Literatur interessieren. Die Literatur, so wird dann gefordert, müsse ihre Stimme erheben und sich für die Tradition öffentlich einsetzen. Das tun auch einige Schriftsteller, nur haben sie deshalb aufgehört zu schreiben. Jicai Feng zum Beispiel, vielfach ins Deutsche übersetzt, versucht das kulturelle Erbe der Hafenstadt Tientsin zu bewahren, indem er Geld für ihre Restaurierung beschafft.
K.WEST: Inwiefern hat die wirtschaftliche Liberalisierung den Umgang mit Kunst und die Lebensbedingungen der Schriftsteller beeinflusst?
KUBIN: Das ist ein trauriges Kapitel. Viele Schriftsteller, die in den 1980er Jahren auch in Europa recht bekannt gewesen sind, haben nach 1992 die Literatur aufgegeben, um Geld zu verdienen. Der literarische Markt ist seitdem gespalten: Auf der einen Seite finden sich Schriftsteller, die mit ihrer Arbeit viel Geld vor allem im Ausland verdienen wollen und dementsprechend marktkonforme Werke produzieren. Noch bevor sie überhaupt eine Zeile zu Papier gebracht haben, wird ihnen sehr viel Geld in die Hand gedrückt. Mittlerweile haben alle erfolgreichen chinesischen Autoren Agenten in Amerika, die die Rechte dann weiter nach Europa verkaufen.
K.WEST: Und auf der anderen Seite?
KUBIN: Dort finden sich Dichter, die sich der hohen Dichtkunst verschrieben haben, in China aber kaum publiziert werden, weshalb sie auch nicht bekannt sind. Durch die Auswanderung der Literaten in die Wirtschaft wurde die Literatur für nichtig erklärt. Das zu sehen erschüttert mich immer wieder.
K.WEST: Wird der rasante Wandel des Landes seit den 1990er Jahren in der chinesischen Gegenwartsliteratur kritisch thematisiert? LITERATUR K.WEST OKTOBER 2007 08
KUBIN: Die Dichter schreiben über den Traditionsverlust, doch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wird sehr zurückhaltend behandelt. Denn eine kritische Auseinandersetzung müsste von der offiziell vorgegebenen Meinung abweichen.
K.WEST: Hat sich der Stellenwert der Literatur innerhalb der chinesischen Gesellschaft seit den 1990er Jahren verändert?
KUBIN: Literatur war Mitte der 1980er Jahre ungemein wichtig. China hatte nicht nur eine, sondern viele literarische Stimmen. Millionen Chinesen lasen literarische Werke, weil sie Orientierung suchten. Heute hat das Internet diese Funktion übernommen. Der Schriftsteller, selbst wenn er gut verdient, steht heute am Rande der Gesellschaft. China hat unter den Literaten keine Stimme mehr, weder im Inland noch im Ausland.
K.WEST: Der Protokapitalismus der 1990er Jahre hat der chinesischen Literatur also mehr geschadet als der Kommunismus?
KUBIN: Viele Chinesen würden diese Frage wohl bejahen. Obwohl der Kommunismus – so wie er hier praktiziert wird – ein Teil der Moderne ist, war er im Vergleich zum westlichen Kapitalismus rückständig und konnte deshalb nicht alles in den Griff bekommen. Er hat, ähnlich wie in der DDR, China verfallen lassen. Doch fehlten dem System letztendlich die finanziellen Mittel, um die Kulturgüter systematisch zu ruinieren. Jetzt ist ausreichend Geld vorhanden, um die gute Sitte und die hohe Dichtkunst auszulöschen.
K.WEST: Warum ist es den chinesischen Schriftstellern nach der Öffnung Ende der 1970er Jahre nicht gelungen, an die reiche literarische Tradition anzuknüpfen?
KUBIN: Die chinesischen Literaten nach 1949 lernten keine Fremdsprachen mehr. Selbst wenn sie jahrelang im Ausland gelebt und eine neue Staatsangehörigkeit angenommen haben, sprechen sie die jeweilige Landessprache nicht. Sie können ausländische Literatur nur in Übersetzungen lesen, die jedoch gefährdet sind, weil die literarischen Übersetzer in China kein hohes Ansehen genießen und dementsprechend schlecht verdienen. Während die Volksrepublik zu einer internationalen Wirtschaftsmacht herangewachsen ist, ist die Literaturszene immer provinzieller geworden.
K.WEST: Fast wöchentlich erreichen uns aus China Nachrichten von verbotenen Büchern und schärferen Zensurgesetzen. Decken sich diese Nachrichten mit Ihren Eindrücken vor Ort?
KUBIN: Ich erlebe das nicht so, was allerdings auch eine traurige Seite hat. Denn es zeigt, dass Schriftsteller, Zensoren und Journalisten zusammenarbeiten. Deutschen Journalisten und chinesischen Autoren kann nichts Besseres als ein Buchverbot passieren. Zwar können die Schriftsteller dann in China ihre Bücher nicht mehr verkaufen, doch im Ausland machen sie Kasse. Auf dem chinesischen Schwarzmarkt werden sie natürlich auch nachgedruckt, so dass sie dann letztendlich überall erhältlich sind.
K.WEST: Sie halten die Aufmerksamkeit, die das Ausland auf derartige Verbote und Verfolgungen richtet, für selektiv?
KUBIN: Nein, selektiv nicht. Es gibt nur nicht mehr allzu viele Schriftsteller, die überhaupt willens sind, gegen den Strich zu schreiben; selbst wenn sie das tun, produzieren sie meistens für den westlichen Markt. Wer in China verboten wird, mag mutig sein, nur ist er deshalb nicht automatisch auch ein großer Dichter. Schreiben können und Mut haben sind zwei grundverschiedene Dinge. Ein gutes Beispiel ist Heinrich Böll, der ein großer Moralist und Mensch gewesen ist, heute als Schriftsteller aber kaum noch geachtet wird.
K.WEST: Chinesische Schriftsteller kommen also mit der Zensur nicht mehr in Konflikt, weil sie ohnehin den westlichen Markt im Auge haben?
KUBIN: Sie müssen sich die Zensur anders vorstellen, denn sie wird von den Verlegern ausgeübt. In der Regel weiß der Verleger sehr genau, was er in China veröffentlichen kann. Nimmt er das Manuskript nicht an, wandert es auf den westlichen Markt ab, wird aber durch die Ablehnung seitens des chinesischen Verlags verkaufsfördernd als verboten etikettiert. Kommt ein Buch in China auf den Markt, dauert es einige Zeit, bis die für die Zensur arbeitenden Professoren im Ruhestand darauf aufmerksam werden. Wenn sie das Buch anschwärzen, geschieht dem Verfasser überhaupt nichts. Er kann weiterhin frei reisen, an Buchmessen teilnehmen und im Ausland viel Geld verdienen.
K.WEST: Sind die gesellschaftlichen und medialen Voraussetzungen für ein funktionierendes Zensursystem heute überhaupt noch gegeben?
KUBIN: Streng gesehen nicht. In Deutschland haben wir häufig den Eindruck, dass sich der chinesische Staat stark gebärdet, aber die Marktwirtschaft untergräbt die Zensur permanent. Was immer auch theoretisch verboten sein mag, in der Praxis ist es verfügbar. Sie können in China grundsätzlich jedes Buch bekommen, häufig sogar in offiziellen Buchläden.
K.WEST: Die chinesische Politik hat Kunst und Literatur lange als Waffe verstanden. Kommen die chinesischen Schriftsteller ihrem politischen Auftrag noch nach?
KUBIN: Ich bezweifele, dass sich in China leicht Schriftsteller finden lassen, die diese Frage bejahen. Ich gehe davon aus, dass alle im Schriftstellerverband bewusst Organisierten dies täten. Aber diese Autoren kennt man wahrscheinlich noch nicht einmal in China. Vor allem die im Ausland lebenden Dissidenten reklamieren einen politischen Auftrag für ihre Literatur. Aber auch hier ist das Schwarz-Weiß-Denken durchbrochen. Bis auf Bei Dao können alle Exilanten nach China einreisen und verbringen dort regelmäßig ihren Urlaub. Ich habe sogenannte Dissidenten erlebt, die sich mit ihren Zensoren – sprich: Verlegern – zusammengesetzt haben, um ihre Bücher für den chinesischen Markt zusammenzustreichen. Es ist heute nicht mehr so, dass auf der einen Seite die Bösen, auf der anderen die Guten anzutreffen sind. Sie spielen alle miteinander ein gemeinsames Spiel.
K.WEST: Sie haben vor ein paar Jahren beklagt, dass viele chinesische Autoren auf dem deutschen Buchmarkt das Schicksal ereilt, schlecht übersetzt zu werden. Warum gibt es so wenig gute deutsche Übersetzer?
KUBIN: Die Ausbildung von Übersetzern an der Universität ist in Deutschland nie besonders gefördert worden. Der Übersetzerstudiengang Chinesisch in Berlin beispielsweise ist eingestellt worden. In Bonn hat es sehr lange gebraucht, bis Übersetzen als etwas Ernsthaftes angesehen wurde. Nach wie vor ist die Annahme weit verbreitet, dass des Chinesischen mächtige Sinologen automatisch auch gute Übersetzer sein müssten. Das Hauptproblem der Sinologen ist, dass sie ihre Muttersprache nicht ausreichend beherrschen.
K.WEST: Ist der Zugriff der Wirtschaft auf die Sinologie stärker geworden in den letzten Jahren?
KUBIN: Natürlich. Was von der Sinologie gefordert wird, ist Studenten auszubilden, die die chinesische Wirtschaft und das politische System verstehen. Die Kultur spielt dabei eine sehr untergeordnete Rolle.
K.WEST: Lässt sich die chinesische Wirtschaft denn ohne den kulturellen Hintergrund verstehen?
KUBIN: Selbstverständlich nicht. Nur versteht das die deutsche Wirtschaft wiederum nicht.
K.WEST: Ist die relative Marginalisierung der chinesischen Literatur in Deutschland auch ein kulturelles Problem?
KUBIN: In den 1980er Jahren gab es hierzulande eine begeisterte Aufnahme zeitgenössischer chinesischer Literatur, auch die modernen Autoren vor 1949 zählen noch zur Weltliteratur. Dass die sich nicht mehr verkaufen, hängt auch mit Gegebenheiten in China zusammen. Nach 1989 wurde die Literatur aus verschiedenen Gründen untergebuttert, abgeschafft oder kontrolliert. Die Literaten sind bereitwillig in die Wirtschaft gegangen, wogegen ja an sich nichts einzuwenden ist. Doch hat das einen sehr schlechten Eindruck bei uns hinterlassen. Wenn ein Land seine eigene Kultur aufgibt, ist es schwer, diese im Ausland noch zu vermitteln.
K.WEST: Das klingt ein bisschen so, als wenn das, was sie einst zum Studium der Sinologie bewogen hat, untergegangen ist?
KUBIN: So ist es.