Das wird ein außergewöhnliches Erlebnis: Die Welt aus der Sicht nicht-menschlicher Organismen zu betrachten. So planen es Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten für ihre multimediale Schau im Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, die den Titel: »We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show« trägt. Außergewöhnlich auch das Personal: Zu Charakteren werden da etwa der Azolla-Algenfarn, von dem vermutet wird, dass er vor 49 Millionen Jahren die Erde stark abkühlen ließ. Oder auch Korallen, die es auch im Ruhrgebiet gibt. Ebenfalls dabei: Eine Orchidee, die zum Symbol von Geoengineering wird. Denn früher im Regenwald wuchs die Pflanze in einer symbiotischen Beziehung mit einem Pilz. Die Exemplare bei uns daheim auf der Fensterbank hingegen würden im Reagenzglas gezüchtet und benötigten keinen Pilz mehr als Ernährer, so wissen Stolzer und Rütten.
Die Grundlage jeder Arbeit sind Recherchen, für die das Duo mindestens fünfzig Prozent der Zeit aufwendet. Auf Orchideen stießen die beiden etwa bei einer Reise auf die Philippinen. Und sogar bis zu einem Gletscher führten ihre Forschungen schon. »Da wo der Gletscher abschmilzt, entstehen neue Landschaften. Es ist der Start des Lebens, so schmerzhaft das ist«, bemerkt Jana Kerima Stolzer.
Nach der Recherche beginnt der künstlerische Prozess. Dann spielen Stolzer und Rütten sich die Bälle zu, konfrontieren sich gegenseitig mit gefundenen Fakten und auftauchenden Ideen. Für Lex Rütten viel spannender, als sich mit reiner Biologie zu beschäftigen: »Wir schauen aus einer künstlerischen Perspektive darauf und finden Überschneidungen und Narrationen, die für einen Biologen gar nicht so sichtbar – und vielleicht auch nicht ganz wissenschaftlich – sind.« Heraus kommen Welten, die sich zwischen Utopie und Dystopie bewegen, angesichts des Raubbaus des Menschen an der Natur und der Klimakatastrophe einen Untergang sehen, aber in der Fiktion auch einen Erlösungsschimmer zeichnen.
Überwältigen kann diese Kunst. Und überzeugen auf unterschiedlichen Ebenen – inhaltlich, technisch, ästhetisch. Wie zuletzt auch in Witten: »Klagelieder eines Geröllhaufens« waren zu hören und Legenden der Wittener Stadtgeschichte. Eine VR-Experience trumpfte auf mit überwältigenden Bildern, die konkurrierten mit einer Geschichte, die Hexenverbrennungen und die Entdeckung der Kohle verband und deutlich machte, woher die Bodenschätze des Ruhrgebietes kommen – aber auch, welche Folgen ihre Ausbeutung hat.
Immer wieder gebe es jene Ambivalenz, meint Jana Kerima Stolzer. »Wenn wir das aus menschlicher Sicht betrachten, und unsere eigene verletzliche Existenz schützen wollen, ist das alles superschlimm. Aber wenn wir die eigene zentralistische Sicht verlassen, und über die Jahrmillionen und die Natur als Ganzes nachdenken, ist das alles plötzlich nur noch nichtig, weil wir so klein sind in einem riesigen Kreislauf, der einfach weitergehen wird.«
Die Natur übernimmt denn auch in der Oper, die Rütten und Stolzer für das New Now Festival kreieren, das am 1. Juni auf der Zeche Zollverein in Essen startet. Über drei Etagen der Mischanlage sollen sich die Hauptdarsteller der drei Akte präsentieren: Pionierpflanzen, die auf Zollverein zu finden sind, also Pflanzen, die besonders anpassungsfähig und robust sind und deshalb neu geschaffene Lebensräume – wie ein Zechengelände – besiedeln können. Bereits gestaltet ist der Chinesische Sommerflieder, der über sein Schicksal singt. »Wir haben schon in unserer ersten Arbeit über Sound Geschichten erzählt und sind immer weiter in eine Musicalebene gekommen, die Charaktere singen mit einer synthetischen Stimme«, berichtet Lex Rütten. »Wir denken, dass über das Singen Empathie viel einfacher vermittelt werden kann.«
Die anderen Charaktere, die einen Auftritt beim New Now Festival haben sollen, müssen auf dem Zollverein-Gelände erst noch gefunden werden – im Frühling werden sie sich wohl zeigen. Der Wunsch ist, Pflanzen aus der direkten Umgebung des Ausstellungsgebäudes zu verwenden, damit die Besucher*innen sie wiederentdecken können, sobald sie aus der Schau treten. »An der Geschichte der Pflanze kann man die Geschichte des Ortes ablesen«, so Jana Kerima Stolzer, »auch da gibt es wieder diese Ambivalenz: zwischen Pionieren und Invasiven. Pioniere sind zunächst positiv, weil sie ein Gebiet erobern, das noch unwirtlich ist. Irgendwann können die Pioniere aber invasiv sein, weil sie das Gebiet so weit erobert haben, dass nur noch sie da sind und nichts anderes mehr zulassen«.
Verzweifelter Staubsaugerroboter
Schon in früheren Arbeiten widmeten sich die beiden dystopischen Welten, so in ihrem ersten gemeinsamen Projekt für den Wewerka-Pavillon der Kunstakademie Münster im Jahr 2017. »89-17« war eine begehbare Soundinstallation über die Erde nach einem Meteoriteneinschlag. In einem weiteren gemeinsamen Werk entdeckten Stolzer und Rütten nicht-menschliche Akteure für sich: Ein Staubsaugerroboter auf der verzweifelten Suche nach seiner Station weckte mehr Empathie der Zuschauenden als die menschlichen Akteur*innen. Also wurde eine Drohne zur Protagonistin der folgenden Arbeit: Im damals noch bestehenden Ort Lützerath scannte das Künstlerpaar die Gebäude und baute sie als 3D-Modelle nach, die man in einer Führung begehen konnte. Eine kaputte Drohne singt in einer nun nicht mehr verständlichen Sprache über das, was sie sieht. »Wir haben immer wieder nach Themen gesucht, in denen eine Beziehung von Mensch, Natur und Maschine steckt. Jetzt sind wir dazu übergegangen, mehr in die Natur zu gucken«, stellt Lex Rütten fest.
Kennengelernt haben sich beide 2016 an der Kunstakademie Münster, wo sie in verschiedenen Klassen freie Kunst studierten. Jana Kerima Stolzer kam von der Folkwang Universität der Künste, wo sie Fotografie studiert hatte. Lex Rütten ging danach an die Kunstakademie in Düsseldorf. Ganz klassisch Ölmalerei habe er studiert, dann aber das Drängen verspürt, die Räume zu begehen die er male. Die Fähigkeiten zum Bau der digitalen Figuren und Räume brachten sie sich selbst bei und haben sie immer weiter professionalisiert – anfangs wurden die Charaktere schon mal mit Face-Filtern von Instagram gestaltet. Heute schaffen Stolzer und Rütten aufwendige Landschaften, die oft auf gescannten Elementen und Oberflächen beruhen, die sie in der Natur oder rund um den Ausstellungsort finden. Der künstlerische wie der Produktionsprozess liegen komplett in ihren Händen. Nur bei besonderen technischen Anforderungen lassen sie sich helfen, auch wenn das bedeutet, für ein neunminütiges Werk wie die VR-Installation in Witten den Computer im Wohn-Atelier drei Wochen durchrechnen zu lassen.
Sechs Monate benötigt das Duo im Schnitt für eine Arbeit. Unlängst hat das Kunsthaus NRW in Kornelimünster eines ihrer recherche- und zeitintensiven Werke erworben, doch nur wenige Sammler kaufen Medienkunst für die heimische Wohnzimmerwand. Stipendien, Förderprogramme und Ausstellungen wie Ankäufe von Institutionen machen ihre Kunst möglich, auch haben die Corona-Programme des Landes NRW geholfen. Und der günstige Wohn- und Arbeitsort: Das Künstlerhaus Dortmund. Auch dadurch sind sie gut vernetzt im Ruhrgebiet, in dem sie viel Potenzial für neue Formen von Kunst sehen, wie Jana Kerima Stolzer feststellt: »Die Region ist noch auf der Suche nach einer kulturellen Identität, kann ganz schnell reagieren und sich neuen Formaten öffnen – die Räume sind noch nicht alle belegt.«
»We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is our show«
11. März bis 30. Juli
Hartware Medienkunstverein, Dortmund
New Now Festival
1. Juni bis 6. August 2023, Zeche Zollverein, Essen
Website von Lex Rütten und Jana Kerima Stolzer: