TEXT PATRICK WILDERMANN
Der größte Zauderer der Theatergeschichte hat sich Haare und Augenbrauen abrasiert. Er steht auf der nackten Bühne in Skinny Jeans, im Rücken seinen Video-Zwilling, und stellt sich vor als Julian Meding. Seines Zeichens Performer, Musiker, und für alle, die es sehen wollen, heute Abend auch: Hamlet. »Sie können versuchen, sich mit mir und meiner Geschichte zu identifizieren – und mit diesem Körper«, bietet der Mann im »Leckt mich doch«-Tonfall des erprobten Lebenskünstlers an. »Alles wird zum Material.«
Mit Shakespeare hat die »Hamlet«-Version von Regisseur Boris Nikitin und seines Protagonisten Julian Meding auf den ersten Blick gerade mal den Titel gemeinsam. In dieser One-Man-Show feuert Meding als Egoshooter Bruchstücke seiner Biografie in den erwartungsgeladenen Theaterraum und schaut, was die Realität zurückreflektiert. Er bietet Geschichten vom Aufwachsen nahe Braunschweig, vom Tod seines Vaters und von einem Klinikaufenthalt zur Projektion an, dazwischen singt er Songs über Blasen auf der Haut und die Schönheit der Welt. Es ist ein Mix aus queerer Konzert-Performance, postdramatischem Stand-up und assoziativer Spiegelfechterei. Und damit dringt das Duo Meding-Nikitin eben doch zum Shakespeare-Kern durch. Weil es zunehmend um Fragen von Identitätsfindung im großen Rollenspiel der Gesellschaft geht, um den Versuch einer Selbstermächtigung – mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Zur Not auch Kunst.
Mit »Decide or else« überschreibt Florian Malzacher seine von ihm verantwortete vierte und letzte Ausgabe des Impulse-Festivals, sinngemäß: Entscheide dich oder stirb! Da klingt das Sein oder Nichtsein schon durch. Genauso aber berührt das Thema der Wahl gegenwärtige Debatten über die Demokratie und ihre Schattenseiten. Wo das Volk zuletzt abstimmen durfte, setzte sich nicht selten der Schwachsinn durch. Last but not least will der Festivalchef die Entscheidungsfrage auch ans Publikum zurückspielen. Mit Arbeiten, »die den Zuschauer in die Bredouille bringen«, ihm eine Haltung abverlangen, obschon die Positionierung denkbar schwerfallen würde. Die Aufgabe lautet also: Spannung aushalten statt Antworten finden.
Ein Paradebeispiel für diese Übung in moralischem Spagat ist »Five Easy Pieces« von Milo Rau, entstanden am Genter Art Center Campo und jüngst ebenfalls zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Der Abend startet mit dem Casting eines Kinderensembles. Die Akteure, zwischen acht und dreizehn Jahre alt, werden von Peter Seynaeve als Spielleiter nach Vorlieben und Kunstverständnis befragt. »Was bedeutet Theater für dich?« – »Theater ist wie Puppenspiel«, antwortet der junge Winne Vanacker, »nur mit echten Menschen statt mit Marionetten«. Schöner kann man es kaum auf den Punkt bringen. Damit ist auch gleich mal der Verstörungsvorhang für ein Stück voller »Darf man das?«-Fragen geöffnet.
Denn im Folgenden werden die (unfassbar guten!) Jungdarsteller die Biografie des Kindermörders Marc Dutroux vor dem Back-ground der belgischen Geschichte durchleuchten und auch in die Rolle von Entführungsopfern schlüpfen. Ist das nicht ebenfalls eine Art Missbrauch, im Namen der Kunst? Der Text, der auf Recherchen von Rau und seinem Team basiert und permanent das Theaterspiel mitbetrachtet, verlangt uns jedenfalls das Äußerste ab: die Ambivalenz der Situation zu ertragen.
Afrikanische Vampire und der Horror der Provinz
So ungemütlich wie uneindeutig geht es auch in der Produktion »Sorry« vom Kollektiv Monster Truck zu. Auf der Bühne liegt eingangs ein nigerianischer Junge, wie tot. Ein älterer weißer Mann mit Wampe gesellt sich dazu, macht es sich auf dem Klappstuhl bequem und mampft in aller Seelenruhe eine Tafel Schokolade. Was, keine Frage, zum moralischen Schiedsrichtertum der simpleren Sorte einlädt. Dann allerdings hebt der Mann das Kind auf – und wird jäh von ihm angefallen und gierig ausgesaugt. Ups! Was soll denn diese Umkehrung der Vampir-Verhältnisse? »Sorry« entstand in Zusammenarbeit mit dem nigerianischen Choreografen Segun Adefila und findet zum Sound von Tracy Chapmans »Baby Can I Hold you« starke Bilder für das postkoloniale Verhältnis zwischen dem Westen und Afrika, das von Augenhöhe noch immer Lichtjahre entfernt ist. Das kulminiert in einem gespenstischen Tanz in Schokoladensauce. Und in einem lockeren Dialog der jungen Akteure über die afrikanische Kunstmoderne, der uns die eigene Ignoranz wie eine Sahnetorte ins Gesicht (zurück-)schmiert.
Florian Malzacher hat stets betont, dass ihn das Politische am Freien Theater interessiere. Arbeiten wie »Five Easy Pieces« oder »Sorry« belegen ohne jede Relevanzanstrengung, dass dieser Begriff keine hohle Kuratoren-Floskel bleiben muss. Das gilt in diesem starken Impulse-Jahrgang auch dort, wo vermeintlich private Erzählungen verhandelt werden.
Wie in der Arbeit »Du gingst fort« der Rabtaldirndln, dem tief in der österreichischen Scholle verwurzelten Frauenkollektiv, das sich besonders gern am Heimatbegriff mit seinen Blut-und-Boden-Implikationen abarbeitet. Hier spüren die Performerinnen – in Pappkartontracht – der Frage nach, was Menschen aus der Provinz vertreibt. Eine mitreißende Suche nach »vermissten Ausheimischen«, die sich zur universellen Erzählung über Horizontverengung und Entfremdung auswächst.
Die Hildesheimer Gruppe vorschlag:hammer dagegen rollt anhand der Biografie einer 84-Jährigen ein ganzes Leben aus Entscheidungen, Überzeugungen und Zweifeln als begehbares Kammerspiel auf, das mit Fotos und anderen Erinnerungsstücken vollgestopft ist. Wobei »Die Erfindung der Gertraud Stock« schon im Titel nahelegt, dass die Fiktion sich munter unter die Fakten mischt. Interessanterweise wird das zusammenfantasierte Leben gerade dadurch andockfähig.
Viva la Care-Revolution!
Was sich Malzacher wünscht, geht jedenfalls auf. In Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr werden Arbeiten geboten, die miteinander korrespondieren und ihre Verlinkungen knüpfen, ohne dass man sie zusammenpferchen müsste wie fremdelnde Kinder: Dann spielt mal schön! Eine der besten Entscheidungen seiner Impulse-Amtszeit war sicherlich, das Festival vom Jury-bemutterten Leistungsschau-Gedanken zu befreien und stattdessen eine Szene in der Breite abzubilden, zu deren Wesensmerkmalen Wandel und Nachwuchs gehören. Gerade wenn man die Freie Szene des deutschsprachigen Raums nach politischen Positionen ableuchtet, sind junge Entwürfe nicht uninteressant, die gern noch entwicklungsfähig sein dürfen.
Ein Beispiel dafür ist das Künstlerinnenkollektiv Swoosh Lieu. Es sucht nach einem zeitgemäßen Feminismus und wirft mit »Who cares?!« schon im doppeldeutigen Titel eine sehr berechtigte Frage auf: Wer kümmert sich? Klare Antwort: die Frauen. Egal, ob als Mütter, Pflegekräfte, Sexarbeiterinnen, Erzieherinnen, Therapeutinnen und so fort. Mit etlichen dieser Sorgetragenden haben die Künstlerinnen Interviews geführt, die als Soundcollage in einer Performance über neoliberale Rollenverteilungen mit Reformbedarf aufgehen. Ein starker Entwurf im Bühnenbild aus weißer Wäsche. Vielleicht wäre er noch stärker, wenn er nicht mit einer Pusteblumen-Utopie über die Tage nach der »Care-Revolution« enden würde, in denen der Kapitalismus besiegt ist, keiner mehr Geschlechter kennt und die Kinder gemeinschaftlich aufgezogen werden. Ideal oder Albtraum? Entscheiden Sie selbst!
Düsseldorf, Köln, Mülheim an der Ruhr: 22. Juni bis 1. Juli; viele verschiedene Spielstätten, noch mehr Extras in Theorie und Praxis.