TEXT: ULRICH DEUTER
Von der Vita contemplativa sind wir unendlich weit entfernt. Einst war sie die einzig geistesgemäße und also menschenwürdige Lebensform, verdrängt hat sie ihre Antipodin, die Vita activissima. Alles, was wir tun, muss professionell getan werden, unter höchstmöglichem Einsatz; auch das Kritischsein. Man renommiert mit der hohen Zahl der Stunden, die man in der Woche arbeitet und den Leistungen, die man in der Freizeit vollbringt. »Unten rasen die Lastautos, das Telephon tönt als des Knaben Wunderhorn, zwölf Stunden Betrieb und nachts noch Bogenlampen vor Schlafzimmern«, heißt es irgendwo bei Ernst Bloch. Aber wenn wir Auschwitz nicht als Unfall der Geschichte, sondern als Konsequenz verstehen, dann sollte die Überschrift »Arbeit macht frei« über den Lagern uns auch in dieser Hinsicht nachdenklich machen.
Was ist Arbeit für, was macht sie mit uns? Das Wort hat noch vor ein paar Jahrhunderten einen äußerst schlechten Klang gehabt, arebeit war Fron, Plage, Mühsal, travail leitet sich vom Namen eines Folterinstrumentes ab. Das was die Menschen den Tag über taten, ihr Tagwerk eben, wurde nicht Arbeit genannt und war auch keine. Das Christentum im Allgemeinen und die protestantische Ethik im Besondern haben den Wandel bewirkt. Überall in der Welt? Ist heute das, was da die Schriftstellerin in Boston, auf dem Bett liegend und auf ihrem Laptop tippend, dasselbe wie das, was der Messerschleifer auf der Straße in Hanoi tut? Der Bettler in der Moskauer Unterführung, arbeitet er? Wie kann man das nennen, was der Scout zu einem freien Parkplatz in Lissabon für ein Trinkgeld tut – Arbeit?
Über 400 Filme haben die Kuratorin Antje Ehmann und der Filmemacher Harun Farocki seit 2011 in Workshops mit ortsansässigen Film-/Videokünstlern in Bangalore, Berlin, Boston, Buenos Aires, Genf, Hangzhou, Hanoi, Kairo, Johannesburg, Lissabon, Łódź, Mexiko City, Moskau, Rio de Janeiro und Tel Aviv gedreht. Einziges Thema: Arbeit – bezahlte oder unbezahlte, körperliche oder geistige, anstrengende oder leichte, traditionsreiche oder gänzlich neue. Ein weiter Begriff. Die formalen Vorgaben: Der Film durfte nicht länger als zwei Minuten sowie mit nur einer einzigen Einstellung gedreht sein – eine Reminiszenz an und ein Rückgriff auf die Methode der allerersten Bewegtbilder im 19. Jahrhundert; aus dem Grund, »etwas von der Entschiedenheit der frühen Filme wieder zu gewinnen. Die frühen Filme sagten: jedes Detail der bewegten Welt ist es wert, festgehalten und betrachtet zu werden«, schwärmen Ehmann und Farocki. Der erste von den Gebrüdern Lumière gedrehte Film, »La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon« von 1895, bewies außerdem, dass eine einzige und mit knapp 50 Sekunden zudem kurze Einstellung bereits eine Geschichte erzählen kann.
Zehn Leinwände sind versetzt im Museum Folkwang aufgebaut, für zehn der Workshop-Städte eine; darauf laufen je sechs ausgewählte »Einstellungen zur Arbeit« im Loop. Der Blick, den wir darauf werfen, ist ein doppelter: soziologisch und filmästhetisch. Buenos Aires: Die starre Kamera erfasst einen rotverschmierten Behälter, Lärm von Maschinen mischt sich mit Italo-Pop. Ein Mensch kommt und senkt eine Trage mit keulenförmigen herabhängenden Gebilden in die Wanne, »Ballon-Fabrik« heißt das Video, der starre Ausschnitt zeigt den Kopf des Arbeiters nicht. Nach wenigen Sekunden heben Arme die Trage wieder an, die Ballons sind tiefrot gefärbt. Der Mensch geht nach links aus dem Bild, ein weiterer Mensch kommt von rechts. So könnte, so wird es wohl immer weiter gehen. Tel Aviv: In einem Fitnessstudio wischt ein dunkelhäutiger Putzmann Bodenmatten ab, um ihn herum trainieren Kunden an Geräten. Rio de Janeiro: Von einer Brücke aus gefilmt, sehen wir einen Straßenverkäufer die im Stau stehenden Autos abgehen. Nach einer Zeit verschwindet er aus dem Bild, der nächste Verkäufer kommt und kann etwas verkaufen, irgendwas Erfrischendes? Łódź: In einer blitzenden Profiküche legt ein Mann Fleischstücke auf einer Anrichte aus, breitet eine dünne Plastikplane darüber und klopft die Schnitzel flach. Kairo: Ein Fotograf präpariert in seinem Studio alles für eine Porträtaufnahme, weist dem Kunden seinen Platz vor einem Leinwandhintergrund zu, verdunkelt das Fenster, schaltet ein Licht ein, ruft dem Kunden etwas zu, löst aus. Dann löscht der Fotograf alle Lichter im Studio und macht den Vorhang vor dem Fenster wieder auf. Berlin: Ein Wachmann schlendert am Rande des Holocaust-Mahnmals hin und her, die Kamera folgt ihm. Dann und wann schaut er auf die Uhr, hinter dem Rücken hält er einen Packen Zettel in Händen. Moskau: Ein Schienenarbeiter schaufelt Schotter in einem Gleisbett, zum Schluss dreht er den Kopf nach hinten und schaut einen Moment lang in die Kamera. Moskau: Zwei Männer trainieren wieder und wieder einen Messerkampf, einer attackiert, der andere wehrt ab und entwendet dem Angreifer die Waffe. Hangzhou: Ein Polizist oder Wachmann im Disput mit einer elegant gekleideten Frau. Plötzlich versetzt der Uniformierte der Frau einen Schlag ins Gesicht, die Kamera fährt zurück, wir sehen, es war die Filmaufnahme einer Ohrfeige und das Ganze ein Set. Eine ähnlich starke Geschichte erzählt ein Video aus Mexico City: Ein Masseur bearbeitet die Schultern eines Mannes, die Kamera ist dicht dabei. Dann zoomt die Kamera zurück, man erkennt, der Masseur ist blind und die Massage findet auf einer belebten Straße statt. Doch so viel Dramatik ist die Ausnahme. Meist scheint das Geschehen ein lapidar typischer Ausschnitt aus einem endlosen und viel komplexeren Zusammenhang zu sein wie in Boston: Die Kamera schwenkt langsam auf ein OP-Team zu und bleibt auf ihm stehen. Licht geht an, die beiden vermummten Menschen verarzten eine Hand, die aus einem grünen Vorhang ragt. Oder wie in Berlin: In einem Notariat legt jemand einen Papierstapel in eine Maschine, locht die Blätter und verbindet sie mit einem Siegelband. Oder Bangalore: Da beschlägt ein Hufschmied einen seitlich auf dem Boden liegenden und an den Beinen gefesselten Wasserbüffel, die Kamera ist in Bodenhöhe. Zwei andere Männer stehen dabei, sie ragen hoch empor, und reden. Was, verstehen wir nicht.
Die Ausstellung wird ergänzt durch die Aktualisierung eines Projekts Farockis von 1995: »Arbeiter verlassen ihren Arbeitsplatz« (das wiederum eine Aktualisierung jenes Lumière-Films war), auch dies entstanden in jenen zehn Städten. An einem Computer lassen sich zudem statistische Daten der Städte abrufen sowie sämtliche 400 Kurzfilme ansehen. Wissen wir danach mehr über Arbeit, über das, was ihr Gegenteil sein könnte? Das verwendete Prinzip der Serie ist, ähnlich wie bei den Fotografen Bernd und Hilla Becher, erhellend und verdunkelnd zugleich. Es gibt diesen schönen Satz von Alexander Kluge: »Ein Dokumentarfilm wird mit drei ›Kameras‹ gefilmt: der Kamera im technischen Sinn (1), dem Kopf des Filmmachers (2), dem Gattungskopf des Dokumentarfilm-Genres (3). Man kann deshalb nicht einfach sagen, daß der Dokumentarfilm Tatsachen abbildet.« In »Eine Einstellung zur Arbeit« erfahren wir aufgrund dieser bloß einen Einstellung wenig bis nichts von dem Zusammenhang, in dem die jeweilige Arbeit steht; der, meint Kluge, komme nur durch die Montage in den Film. Das extrem Serielle von »Eine Einstellung zur Arbeit« wiederum nötigt zur Reflexion über die Unterschiede, die Ungleichzeitigkeit von Arbeit in einer gleichzeitigen Welt. Das Kritische entsteht im Kopf des Betrachters.
Es ist ebenfalls Arbeit.
16. August bis 28. September 2014, Museum Folkwang Essen. www.ruhrtriennale.de+ www.eine-einstellung-zur-arbeit.net