2021 erhielt Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis. Für viele deutsche Literaturkritiker eine Überraschung – und ein Problem. Denn in Deutschland gab es keine aktuellen Übersetzungen der Romane des tansanischen Schriftstellers. Ältere Ausgaben waren, wenn überhaupt, nur antiquarisch verfügbar. Doch die Verlage handelten schnell: In kürzester Zeit gaben sie Übersetzungen in Auftrag. Wenige Wochen später stand Gurnahs Roman »Das verlorene Paradies« in den deutschen Buchhandlungen.
Wie man unter Zeitdruck einen dicken Wälzer aus dem Englischen ins Deutsche überträgt, das weiß Anna-Nina Kroll. Die 34-jährige Essenerin ist seit zehn Jahren Literaturübersetzerin. Mit ihrer Arbeit macht sie die Werke internationaler Autoren für deutsche Leser zugänglich. Zum Beispiel den Roman »Milchmann« von der nordirischen Schriftstellerin Anna Burns, der 2018 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde.
Anna-Ninas Weg zur professionellen Übersetzerin hatte sich schon früh abgezeichnet: Bereits in der Schule hatte sie eine Leidenschaft für Sprache und Bücher, übersetzte mit Hilfe ihres Vokabelhefts englische Songtexte ins Deutsche. Nach ihrem Abschluss schrieb sie sich für den Studiengang »Literaturübersetzen« in den Sprachen Englisch und Spanisch an der Universität in Düsseldorf ein. Schon während des Studiums hat Anna-Nina Bücher übersetzt. Gleich ihre erste Arbeit erschien bei dem renommierten Schweizer Diogenes Verlag: Die Übersetzung von Gabriel Roths Roman »Gleichung mit einer Unbekannten«.
Sympathische Bücher
Wenn ein Verlag mit einer Übersetzungsanfrage auf Anna-Nina Kroll zukommt, kennt sie den Text in den meisten Fällen vorher nicht. Abgabefrist und Honorar spielen bei ihrer Entscheidung für oder gegen eine Übersetzung eine große Rolle. Aber mindestens genauso wichtig ist ihr erster Leseeindruck: »Manche Bücher sind mir einfach nicht sympathisch«, sagt sie. »Als Übersetzerin lebe ich monatelang mit einem Buch, da muss schon auf der ersten Seite ein Funke überspringen.«
Anna-Nina mag Bücher, die Witz und Tragik miteinander verbinden und von der klassischen Erzählstruktur abweichen. Das war zum Beispiel bei Carmen Maria Machados Roman »Das Archiv der Träume« der Fall, den sie im Frühjahr 2021 übersetzt hat. Das Buch handelt von einer toxischen Beziehung zwischen zwei Frauen. Jedes Kapitel steht unter einem anderen Motto. So gibt es dort beispielsweise Abschnitte, die als Matheaufgabe oder als Musical-Script angelegt sind oder ganz ohne den Buchstaben e auskommen.
Auch wenn Anna-Nina sich mit sprachlicher Kunst beschäftigt – übersetzen ist Schreibtischarbeit. Mitten in der Essener Fußgängerzone hat sie ein kleines, schlichtes Büro in einem Co-Working-Space gemietet. Hier sitzt sie stundenlang am Rechner, recherchiert historische Hintergründe, feilt an einzelnen Wörtern. Immer geöffnet: eine PDF-Datei und ein Word-Dokument. In dem einen der Original-Text, in dem anderen ihre Übersetzung. »Ich mache meistens einen ersten, groben Durchgang, danach kommen mehrere Überarbeitungsschleifen«, erklärt sie.
Im Schnitt übersetzt sie etwa 100 Seiten im Monat – und ist damit recht schnell. Offene Fragen klärt sie meistens direkt mit den Autoren. Aber das geht nicht immer. Für ihre Übersetzung der Tagebücher von Patricia Highsmith konnte sie niemanden fragen. Highsmith ist 1995 verstorben. »Da kommt es dann sehr auf mein Gefühl an: Was wollte die Autorin mit ihrem Text ausdrücken?« Wenn Anna-Nina fertig ist, wird ihre Textversion vom Verlag lektoriert und korrigiert. Mehrfach muss sie das Manuskript lesen, bevor die finale Fassung endlich in den Druck gehen kann. »Bis zur Publikation lese ich jedes Buch circa sechs bis sieben Mal«, sagt sie.
Auch Kinderbücher im Repertoire
Lesen ist für Anna-Nina Teil ihrer Arbeit. Kein Wunder, dass sie in ihrer Freizeit nur selten zu einem Roman greift. Stattdessen trifft man sie beim Schwimmen im Essener Grugabad, bei Konzerten von Father John Misty, oder in einem der vielen Literatur- und Übersetzerhäuser in Europa. Regelmäßig nimmt sie auch an Seminaren des Deutschen Übersetzerfonds und den Tagungen des Übersetzerverbands VdÜ teil. Der setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen ein und sorgt dafür, dass die Übersetzer in Deutschland sich miteinander vernetzen können. »Wir sind eine eher kleine Community«, sagt Anna-Nina. Umso wichtiger sei es da, sich gegenseitig zu unterstützen und bei den Verlagen weiterzuempfehlen.
Manchmal ist sie auch an den Schauplätzen der von ihr übersetzten Romane unterwegs. 2020 war sie etwa als Translator in Residence am renommierten Trinity College Dublin zu Gast. Genau dort studiert auch die Protagonistin in Louise Nealons Roman »Snowflake«, Anna-Ninas jüngster Übersetzung. »Es hilft sehr, wenn ich die Handlungsorte kenne«, sagt sie. »Dann kann ich mich besser in die Atmosphäre einfühlen und Beschreibungen von Natur und Stadt authentischer wiedergeben.«
Louise Nealon, Anna Burns, Donal Ryan – die Romane irischer Autoren faszinieren Anna-Nina Kroll besonders. Das irische Englisch bringe ganz eigene Herausforderungen mit sich, erzählt sie: »Wörter und Satzstruktur lehnen sich stark an das Gälische an, außerdem gibt es unzählige lokale Dialekte.« Auch Kinderbücher gehören zu ihrem Repertoire. Obwohl die meistens kürzer und weniger komplex als Bücher für Erwachsene aufgebaut sind – sie zu übersetzen ist eine Sache für sich. Etwa dann, wenn der Text in Reimform gedichtet ist, wie die von Anna-Nina übersetzten Miffy-Geschichten von Dick Bruna.
Ohne Übersetzer wären unzählige Bücher der Weltliteratur für viele Menschen nicht zugänglich. Trotzdem werde diese wichtige Transferleistung nicht ausreichend gewürdigt, findet Anna-Nina. Viel zu oft würden die Namen der Übersetzer bei Buchbesprechungen vergessen oder vom Verlag ganz klein auf der zweiten Umschlagseite veröffentlicht. Viele Übersetzer wechseln vielleicht auch deshalb irgendwann buchstäblich die Seiten und werden Schriftsteller. Für Anna-Nina kommt das erstmal nicht in Frage: »Aber wer weiß, vielleicht packt es mich irgendwann. Nach der 200. Übersetzung.«
Anna-Nina Kroll
Jahrgang 1988, ist Diplom-Literaturübersetzerin, hat in Düsseldorf und Cádiz studiert und übersetzt seit 2012 Romane, Sach- und Kinderbücher aus dem Englischen. Ihre Heimatstadt Essen verlässt sie gern für kurze Zwischenspiele in anderen Städten und Ländern, kehrt aber hinterher umso lieber zurück. Sie interessiert sich besonders für irische und feministische Literatur sowie Kinderbücher.