Draußen tanzen sie miteinander: Eskimo und Chinesin, Mexikaner und Japanerin, Schwarz und Weiß. Dass es die lustige bunte Multi-Kulti-Welt nur als Bild auf der Außenmauer gibt, weiß jeder an der Hauptschule Dinslaken-Lohberg. Drei von vier Schülern haben keine deutschen Eltern, doch im Schatten der stillgelegten Zeche sieht man keine Eskimos oder Mexikaner. Die Hauptschule ist fest in türkischer Hand.
»Was haben wir am nächsten Montag? Irgendetwas Besonderes?«, fragt die Lehrerin. Hüseyin reagiert am schnellsten: »Zuckerfest!«, ruft er in die Klasse. Die Islamkunde-Lehrerin ist nicht ganz zufrieden. »Stimmt, aber ich finde das Wort Zuckerfest tota-a-al blöd. Wie heißt der Tag denn eigentlich, mit dem der Ramadan endet?« Die 15-jährige Alev meldet sich: »Fastenbrechen.« – »Und was ist am Freitag, drei Tage vor dem Fastenbrechen?« Da herrscht Stille in der 9b. »Das Fest der Liebe?«, rät Hüseyin schließlich. »Das ist eine andere Religion, du meinst Weihnachten«, kommentiert Kaddor trocken. Auf Lailat al- Qadr, die »Nacht der Bestimmung«, kommt keiner der Dinslakener Hauptschüler. Niemand der jungen Muslime kennt auf Anhieb den Namen und die Bedeutung der heiligsten Nacht im islamischen Jahr. Lamya Kaddor, die Lehrerin, ist nicht überrascht. Der Wissensstand der jungen Muslime sei katastrophal, lautet ihr Urteil. Während die erste Generation der Muslime in Deutschland ihren Glauben und ihr Wissen noch aus der Heimat mitgebracht hätten, sei an der zweiten und erst recht der dritten Generation viel versäumt worden. Im besten Fall seien die Kinder in die Koranschule der Moschee gegangen, »doch dort wird nur im Koran gelesen, das kann einen Islamunterricht niemals ersetzen«, findet sie.
Auch Hüseyin hat in der Koranschule wohl oft geschwänzt; das Arabische fällt ihm schwer. Mühsam malt er die Schriftzeichen von der Tafel ab und knüllt das Blatt am Ende entnervt zusammen. Seine Mitschülerin Alev schreibt den Namen des Feiertages auf Türkisch an die Tafel: Kadir Gecesi. »Wie schreibt man das, auseinander oder zusammen?«, will sie wissen. Die Wissenslücken sind groß, doch die Neugier ist es auch. In der Nacht der Bestimmung, erklärt Kaddor, erhielt der Kaufmann Mohammed vom Engel Gabriel die erste Sure des Korans – von da an war es Mohammeds Schicksal, Prophet zu sein. Auch heute noch kommen nach islamischem Glauben in dieser Nacht die Engel zu den Menschen und erhören ihre Gebete und Wünsche. »Um sie nicht zu verpassen, sitzen viele Muslime die ganze Nacht bis zum Morgengrauen in der Moschee und beten«, erzählt Kaddor. Eine Schülerin ist beeindruckt: »Boah – die ganze Nacht?« Alev bewegen eher praktische Fragen: »Sprechen die Engel denn deutsch? Oder türkisch?« Eine ganz gewöhnliche Islamkunde-Stunde an der Glückauf-Hauptschule in Dinslaken-Lohberg. Ungewöhnlich ist etwas anderes: Dass das Fach überhaupt auf dem Stundenplan der Schüler steht.
Als ihre deutschen Mitschüler damals zum Religionsunterricht gingen, steckte man Lamya Kaddor in den Türkisch-Unterricht. Dass das arabisch sprechende Mädchen dort fast nichts verstand, störte niemanden. »Damals habe ich mir gewünscht, es gäbe Islamunterricht«, sagt die 28-Jährige. Nun ist Lamya Kaddor selbst Lehrerin für dieses Fach. Montags und dienstags unterrichtet sie in Dinslaken, an den anderen Tagen lehrt und forscht sie an der Universität Münster: Die Islam-und Erziehungswissenschaftlerin arbeitet am Lehrstuhl von Prof. Muhammad Sven Kalisch, dem bundesweit ersten Lehrstuhlinhaber für die »Religion des Islam«. Kalisch ist promovierter Jurist und gläubiger Muslim, der sich im Fach Islamwissenschaft habilitiert hat. Seit dem Wintersemester 2004/2005 gibt er in Münster, der Symbol-Stadt für den Frieden zwischen Protestanten und Katholiken, sein Wissen an zukünftige islamische Religionslehrer weiter. Seine Mitarbeiterin Lamya Kaddor gibt ebenfalls Seminare, etwa »Blut und seine Bedeutung im Islam« oder »Tafsire – Koranexegese anhand ausgewählter Beispiele«.
Lamya Kaddor sieht nicht so aus, wie sich der typische Deutsche eine typische Muslima vorstellt: Sie trägt ihre langen dunklen Haare mit den hellen Strähnchen offen; ihre großen Augen betont sie mit Glitzer- Lidschatten. »Für viele Eltern war ich als Islam-Lehrerin nicht gerade die Traumbesetzung«, sagt Kaddor: Eine junge Frau ohne Kopftuch, und dann auch noch Araberin statt Türkin. »Es gab viel Skepsis, einige Eltern haben sich auch vor Ort vergewissert, wer ich bin und was ich den Kindern erzähle.« Die meisten, sagt sie, waren hinterher angenehm überrascht. Bei den Schülern hat sie sowieso gewonnen, das zeigt sich bereits bei einem Gang über den Schulhof. »Hallo, Frau Kaddor! «, grüßen die Schüler, offenbar erfreut, ihre Lehrerin nach zwei Wochen Ferien wieder zu sehen. Mädchen umarmen die Lehrerin wie eine ältere Schwester, coole Jungs geben ihr die Hand: »Na, alles klar, Frau Kaddor?« Sie haben Respekt vor der jungen Frau, die auch mal Strafarbeiten gibt und bimmelnde Handys im Unterricht einkassiert. Und sie haben Vertrauen. Frau Kaddor weiß, welches Mädchen schon einen Freund hat und was die Eltern dazu sagen; viele türkische Schüler gehen mit ihren privaten Problemen zur Islamkunde-Lehrerin – auch, wenn diese Türkisch nur als Fremdsprache gelernt hat und so richtig gut nur die türkischen Schimpfwörter versteht.
Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte werden islamische Religionslehrer ausgebildet, um Muslime an deutschen Schulen auf Deutsch unterrichten zu können – ein Ziel, das im Jahr 2006 und in einem Bundesland mit einer Million Muslimen reichlich spät kommt. Dabei gab es schon in den 1970er Jahren Bestrebungen für einen islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen. Nachdem dies in den ersten Jahrzehnten am Widerstand des Landes scheiterte, sind es nun die Muslime, die sich nicht einigen können. Denn der Religionsunterricht untersteht nicht dem Staat, sondern der Kirche – welche Organisation aber soll die Interessen der Muslime in Deutschland vertreten? Noch feilschen die existierenden Gruppierungen um den Proporz. Der Islamrat, in dem die vom Verfassungsschutz beäugte »Islamische Gemeinschaft Milli Görüs« die größte Gruppe darstellt, vertritt die türkischen Muslime. Im »Zentralrat der Muslime« sind die arabischen Muslime organisiert. Auch die DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) und der »Verband der Islamischen Kulturzentren« (VIKZ) beanspruchen für sich, eine Mehrheit der Muslime zu vertreten – dabei wollen Minderheiten wie die »Föderation der Aleviten« ebenfalls vertreten sein.
Dennoch ist NRW sogar Vorreiter der Bewegung »Islamunterricht an die Schulen«. Nirgendwo sonst in Deutschland sind die Vorbereitungen für einen flächendeckenden Unterricht so weit gediehen, und nirgends lernen bereits heute so viele muslimische Schüler die Grundlagen ihrer Religion. In bislang 130 Schulen aller Schulformen laufen zurzeit Modellversuche; rund 8000 Schüler nehmen daran teil. Die rund 80 Lehrer dafür wurden entweder nachträglich für dieses Fach qualifiziert oder sind – wie Lamya Kaddor – Islamwissenschaftler mit pädagogischer Zusatzausbildung. Bis 2010 sollen Duisburg und Köln als Pionier-Regionen noch dazu kommen. Irgendwann, frühestens wohl in fünf Jahren, wird dann jedes muslimische Kind in NRW lernen, was die Verse von der Nacht der Bestimmung in der 97. Sure des Korans bedeuten.
Studieren darf Islamunterricht bislang nur, wer mindestens zwei weitere Lehramtsfächer belegt hat – noch ist es eine exotische Ergänzung. Bis islamischer Religionsunterricht an den Schulen zum Regelfach wird, müssen die Absolventen auf ihre anderen Fächer ausweichen. Musa Bagrac steht dies demnächst bevor. Der 29-Jährige steckt mitten im Lehramtsexamen; Sozialwissenschaften und Pädagogik hat er studiert. Nicht gerade Mangelfächer, das weiß er selbst. Für Islamunterricht als Zusatz hat sich der gebürtige Türke denn auch entschieden, um seine Chancen auf Einstellung zu verbessern. Denn sollte der Islamunterricht eingeführt werden, wird es knapp: So viele Absolventen, wie dann benötigt werden, kann der kleine Lehrstuhl in Münster gar nicht auf den Arbeitsmarkt entlassen. 1300 Lehrer würden auf einen Schlag benötigt, hat Kaddor ausgerechnet – zurzeit studieren in Münster gerade einmal 20.
Doch das sind Fragen der Zukunft. Auch in der Gegenwart hat Lamya Kaddor mit Problemen zu kämpfen. Sie unterrichtet auf Deutsch – deutsche Lehrbücher gibt es jedoch noch nicht. Ihr Unterrichtsmaterial erstellt sie sich komplett selbst, eine Arbeit, die kein anderer Fachlehrer sich machen muss. Trotzdem sind Kaddor und ihre Kollegen als islamische Religionslehrer finanziell benachteiligt: »Ich habe sechs Jahre studiert, vier Sprachen gelernt und werde dafür schlechter bezahlt und nicht verbeamtet«, sagt Kaddor. Damit sich das ändert, hat Lamya Kaddor etwas typisch Deutsches getan: einen Verein gegründet. Die junge Frau ist Vorsitzende des »Vereins der Lehrerinnen und Lehrer für Islamkunde an öffentlichen Schulen in NRW« und treibt als solche die Vernetzung der Kollegen voran – um Material auszutauschen, Weiterbildungen zu organisieren, die eigenen Interessen zu vertreten. »Wir unterrichten ein Mangelfach«, sagt Kaddor, »ich selbst arbeite an zwei, manche Kollegen unterrichten an bis zu sieben Schulen. Die Zusammenarbeit mit anderen Fachlehrern bleibt da auf der Strecke.«
Tatsächlich wissen sogar viele Lehrer-Kollegen wohl nicht, wie Islamkundeunterricht abläuft. »Eigentlich unterscheidet er sich nicht groß vom evangelischen Religionsunterricht«, sagt Lehramtsanwärter Musa Bagrac. Er kennt die Gemeinsamkeiten gut: Als Schüler hat er mangels Alternative den Religionsunterricht der christlichen Protestanten besucht. »Auch in der Islamkunde geht es gerade in der Unterund Mittelstufe viel um gesellschaftliche Themen, um das Miteinanderleben. Nur die Quellen sind andere: Statt der Bibel ist es der Koran, statt Nächstenliebe heißt es bei dem Muslimen Nachbarschaftsliebe. « Schon das Studium in Münster steckt ein Wissensfeld ab, das über Theologie weit hinaus reicht: Die islamische Rechtssprechung (Fiqh) ist ebenso Thema wie die Wissenschaft und Geschichte der islamischen Welt oder die arabische Sprache. Musa Bagrac interessiert sich besonders für die philosophischen Inhalte. Besonders tief in den Islam einsteigen könne man in der Schule allerdings nicht, meint Bagrac. Das liegt schon daran, dass der Unterricht für Sunniten, Schiiten und Vertreter der anderen Glaubensströmungen gleichermaßen geeignet sein muss. Für den Anfang muss man da wohl froh sein, wenn Neuntklässler die Bedeutung der wichtigsten Feiertage kennen.