INTERVIEW: ULRICH DEUTER
K.WEST: Sind Tiere für Ethiker überhaupt ein Thema? Ist Moral nicht eine allein menschliche Angelegenheit?
STEIGLEDER: Die Tatsache, dass Menschen die einzigen moralfähigen Wesen sind, die wir kennen, heißt ja nicht, dass der Kreis derjenigen, die für den Menschen moralisch bedeutsam sind, auf uns Menschen beschränkt sein muss. Schmerz ist für uns bedeutsam. Die Tatsache, dass auch Tiere Schmerz empfinden können, muss daher Tiere für uns moralisch relevant machen.
K.WEST: Das entscheidende Kriterium dafür, Tiere in unser ethisches Gebäude mit hineinzunehmen, ist also deren Leidensfähigkeit?
STEIGLEDER: Ich glaube, ja. Und daneben, dass sich vom Wohl eines Tieres sprechen lässt. Dieses kann der Mensch respektieren. Und wenn er dies nicht tut, dann ist dies grundsätzlich begründungsbedürftig.
K.WEST: Leiden besitzt für uns immer eine semantische Dimension. Die haben Tiere nicht. Führt zu sagen, Tiere leiden, nicht zu einem Fehlschluss? Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat in seinem berühmten Aufsatz »What is it like to be a bat« verneint, dass wir jemals herausfinden können, wie es sich anfühlt, z. B. eine Fledermaus zu sein. Wir können auch nicht behaupten zu wissen, wie Tiere leiden.
STEIGLEDER: Die relevante Frage ist: Können Tiere Schmerz empfinden? Dies zu bejahen, dafür haben wir genügend Anhaltspunkte, z. B. ein zentrales Nervensystem bei bestimmten Tieren. Analogien dieser Art rechtfertigen natürlich nicht zu sagen, dass es genau das Gleiche ist. Aber ich denke, wir haben Anlass anzunehmen, dass es sich bei den Schmerzen oder dem Leiden von Tiere um etwas handelt, das dem ähnlich ist, was wir kennen. Und dass dies relevant ist.
K.WEST: Wie entgeht man denn genau hier dem Problem des Anthropomorphismus?
STEIGLEDER: Ich sehe diese Gefahr eigentlich nicht. Denn wir sagen ja nicht, dass Tiere wie Menschen leiden oder wie wir sind, sondern dass wir Anlass haben anzunehmen, dass Tiere zu negativen Empfindungen fähig sind, die auch wir zu vermeiden versuchen. Wir wollen keine Schmerzen leiden, weil dies normalerweise unangenehme Empfindungen sind. Deshalb ist es begründungsbedürftig, wenn wir Tieren Schmerzen zufügen, die offensichtlich auch keine Schmerzen haben wollen.
K.WEST: Wenn wir zu diesem Schluss gekommen sind, versetzt uns das dann nicht in die Notwendigkeit, uns um Tiere genauso zu kümmern wie um Menschen? Dafür zu sorgen, dass sie keinen Hunger leiden, gesund sind usw. – alle Tiere dieser Welt?
STEIGLEDER: Es besteht ein großer Unterschied zwischen positiven Pflichten, also Pflichten, Hilfe zu leisten, und negativen Pflichten, also Pflichten, keinen Schaden zuzufügen.Unsere Pflichten Tieren gegenüber sind vor allem negative Pflichten. Auch behaupte ich nicht, dass Tiere die gleiche moralische Relevanz besitzen wie wir und deshalb ihnen gegenüber die gleichen Pflichten gelten wie gegenüber Menschen. Ich behaupte nur, dass auch Tiere in moralischer Hinsicht relevant sind und wir sie deshalb nicht einfach wie Sachen oder wie Maschinen behandeln dürfen.
K.WEST: Kann man diese unterschiedliche Relevanz in ethischer Hinsicht auf eine Formel bringen oder ist dies eine Abwägungsfrage in jedem einzelnen Fall?
STEIGLEDER: Ich weiß nicht, ob es eine Formel gibt. Entscheidend ist, dass es unterschiedliche Stufen moralischer Relevanz gibt. Der Mensch besitzt einen unüberbietbaren moralischen Status, er besitzt Würde. Das heißt, dass wir füreinander einen absoluten Wert darstellen und uns als letztlich unverrechenbar ansehen müssen. Diese Würde ist durch unsere Handlungsfähigkeit und unsere Moralfähigkeit begründet. Handlungsfähigkeit meint, ein Leben führen und einen Lebensplan verfolgen zu können. Ich denke, Tiere sind nicht in diesem Sinne handlungsfähig und sie sind auch nicht moralfähig. Deshalb besitzen Tiere einen deutlich geringeren Status als Menschen. Aber auch innerhalb der Tierwelt gibt es Abstufungen im moralischen Status.
K.WEST: Welche Tiere gehören mit hinein in diese moralische Arche und welche müssen draußen bleiben? Ist Schluss bei Insekten?
STEIGLEDER: Das erfordert biologische Kenntnisse, auf die ich mich jetzt nicht einlassen möchte …
K.WEST: Aber es hat praktische Folgen ungeheuren Ausmaßes!
STEIGLEDER: Ich habe zunächst höhere Wirbeltiere im Blick. Es geht um Empfindungsfähigkeit und unterschiedliche kognitive Kompetenzen. Insekten können vermutlich keine Schmerzen empfinden, jedenfalls meint dies ein Kollege aus der Biologie. Und unabhängig von dieser Frage gilt: Wenn uns Insekten belästigen, dann dürfen wir dagegen etwas tun. In Bezug auf Tiere gelten nicht einfach die gleichen Normen wie gegenüber Menschen. Wenn wir aber Tiere für unsere Zwecke nutzen, dann ist diese Nutzung an bestimmte moralische Anforderungen gestellt.
K.WEST: Es wird von Tierrechtlern in der letzten Zeit gern das genetische Argument ins Feld geführt. Weil die Übereinstimmung der Gene zwischen Mensch und Tier so hoch sei, seien beide gleich zu behandeln. »Gäbe es einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen Menschen und andren Tieren, so ließe sich der an der DNS ablesen. Die sagt aber genau das Gegenteil: Mensch und Tier – alles eine Soße«, schreibt Karen Duve in ihrem gerade sehr erfolgreichen Buch »Anständig essen«. Können Sie dieses Argument nachvollziehen?
STEIGLEDER: Nein. Ähnlichkeiten in der DNA sagen offensichtlich nichts über Handlungsfähigkeit und Moralfähigkeit aus. Der wichtige Unterschied im moralischen Status zwischen Mensch und Tier ist überdies nicht mit einem »unüberbrückbaren Abgrund« gleichzusetzen.
K.WEST: Tierrechtler wie der Philosoph Peter Singer kritisieren den herrschenden Speziesismus, also die Annahme, der Mensch sei den anderen Spezies überlegen. Wenn Sie von Abstufungen im moralischen Status von Mensch und Tier sprechen, dann ziehen Sie damit, scheint mir, auch eine moralische Grenzlinie zwischen den Spezies.
STEIGLEDER: Eine solche Grenzlinie bedeutet nicht schon Speziesismus. Singer definiert Speziesismus so, dass es sich um einen Fehler handeln muss. Aufgrund von moralisch irrelevanten Unterschieden werden moralisch bedeutsame Unterscheidungen vorgenommen, analog zu Rassismus und Sexismus. Ich sage ja nicht, dass der Mensch aufgrund der bloßen biologischen Gattungszugehörigkeit einen höheren moralischen Status besitzt als das Tier, sondern aufgrund seiner Handlungs- und Moralfähigkeit. Warum sich aus Handlungs- oder Moralfähigkeit ein maximaler moralischer Status ergibt, habe ich in meinen Arbeiten zu zeigen versucht. Die Frage ist dann, ob Tiere handlungs- oder moralfähig sind. Dies scheint nicht der Fall zu sein. Es mag Zweifelsfälle geben. Bezogen auf den Menschen führen diese Kriterien allerdings auch zu Schwierigkeiten. Denn es gibt Menschen, die noch nicht handlungsfähig sind, und solche, die nicht mehr handlungsfähig sind. Es gibt auch Menschen, die niemals im Vollsinn handlungsfähig werden können. Was ist der moralische Status solcher Menschen? Auch darüber habe ich gearbeitet. Etwas plakativ gesagt: Menschliche Embryonen und Föten besitzen noch keine Würde, aber aufgrund ihrer Potenzialität, einmal handlungsfähig zu werden, eine hohe moralische Bedeutsamkeit. Geborene Menschen müssen wir in unterschiedlicher Weise in einem Zusammenhang mit unserer Würde sehen und ihnen Würde zuerkennen.
K.WEST: Moral formuliert Sollenssätze. Welche Sätze würden Sie in Hinsicht auf den Umgang mit Tieren als Gebot aufstellen wollen?
STEIGLEDER: Zunächst, dass Tiere nicht einfach wie Sachen behandeln werden dürfen. Dass also auch der Imperativ der Gewinnmaximierung in Bezug auf Tiere bestimmte Grenzen finden muss. Das heißt, dass sich bestimmte Formen der Tierhaltung oder Schlachtung von Tieren verbieten und dass die Nutzung von Tieren für Experimente unter hohen Begründungsanforderungen steht. Ich glaube schon, dass wir Tiere für Experimente nutzen dürfen, aber diese müssen dann eine bestimmte Unvermeidbarkeit besitzen.
K.WEST: Darf man Tiere töten?
STEIGLEDER: Ich glaube, ja. Wenn man es so macht, dass sie darunter nicht leiden. Ich winde mich etwas, weil wir es in Bezug auf Tiere mit Normen zu tun haben, die mit den Normen in Bezug auf Menschen in ein Verhältnis zu setzen sind. Die Normen in Bezug auf Menschen können die Normen in Bezug auf Tiere überwiegen. Und das kann bei der Frage der Tötung von Tieren auch so sein. Gleichwohl müssen wir auch in Bezug auf Tiere anerkennen, dass unser Handeln an ihnen eine klare Grenze findet. Die Art und Weise, wie wir derzeit mit Tieren organisiert oder institutionalisiert umgehen, ist in vielerlei Hinsicht völlig inakzeptabel.
Dr. Klaus Steigleder ist Professor für Angewandte Ethik am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Bioethik.