Sie meint das tatsächlich ernst. Bianca Wurst steht vor ihrem Fachwerkhaus, blickt auf eine Schlammlandschaft. Blickt auf leere Häuser ohne Glasscheiben in den Fensterrahmen und auf Straßen, die nur noch Schotter- und Erdpisten sind. Und sagt: »Das sieht doch schon wieder richtig gut aus hier.« So begrüßt eine Frau ihr Gegenüber, deren Leben von jetzt auf gleich, zwischen Abend und frühem Morgen, auseinanderbrach. In ein Leben vor dem 14. Juli 2021. Und eines danach.
Bianca Wurst lebt mit ihrer Familie in Schuld bei Altenahr. Oder besser: Sie lebt in dem, was von Schuld übriggeblieben ist. Wenige Meter neben dem Haus plätschert die Ahr normalerweise als Flüsschen durch ihr Bett. Am 14. Juli aber schwoll sie durch schier endlosen Regen auf die Breite des Rheins an. Und strömte durchs Tal, pflügte die Landschaft einmal um. Riss alles mit. Schnitt das Früher ab.
Genau das lässt es heute für Menschen, die nicht dabei waren, verrückt erscheinen, wenn Bianca Wurst sagt, dass es doch »schon wieder richtig gut« aussehe – nur weil die größten Erdlöcher wieder zugeschüttet und der gröbste Unrat tonnenweise beiseite geschafft wurde. Wenn das hier nach sieben Monaten schon »wieder richtig gut« sein soll, dann will man sich gar nicht ausmalen, wie lange es dauern muss, bis es mal wieder annähernd so wie früher sein wird. Sein könnte. Es ist schon Einiges geschehen im Ahrtal. Aber es muss noch so Vieles mehr geschehen. Auf Jahre hinaus.
Auf Bianca Wurst trifft das nochmal in besonderem Maße zu. Denn bei allem Glück, nicht gänzlich vor dem Nichts zu stehen oder gar tot zu sein: Die 46-Jährige gehört nicht nur zu denen, deren Heim erst einmal wieder mühsam heimelig gemacht werden muss. Ihr von der Flut durchspültes Haus steht auch unter Denkmalschutz. Sprich: Es gelten besondere Auflagen beim Wiederaufbau. Ideelle Werte spielen eine große Rolle. Oder wie es Annette Liebeskind von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD) formuliert: »Denkmale bilden einen Querschnitt durch die Kultur der einzelnen Landschaften. Sie sind Ankerpunkte, Identifikationsorte für eine Region. Das heißt: Sie sind auch in Zukunft wichtig.« Alte Höfe, Kirchen, die zu Dutzenden beschädigten historischen Brücken, das Fachwerkhaus der Familie Wurst – es soll und muss möglichst alles erhalten werden. Mag die Anstrengung auch noch so hoch, die Herausforderung noch so gewaltig sein.
Das Haus der Wursts stammt nach deren Angaben aus dem 18. Jahrhundert, war früher einmal das Pfarrhaus des Ortes, befindet sich schon seit mehreren Generationen im Familienbesitz – und ist ein kleines Kuriosum, denn: Dokumente über das genaue Alter existieren bis heute nicht. Weder bei den Wursts noch bei der Unteren Denkmalschutzbehörde des Kreises Ahrweiler. 1993 hatten Bianca Wurst und ihr Mann Christoph den Fachwerkbau von den Schwiegereltern übernommen, ihn auf Vordermann gebracht und lebten dann über ein Vierteljahrhundert gut und glücklich in dem dreigeschossigen Bau mit Scheune. Bis auf »ein bisschen Wasser aus dem Keller schippen ab und zu« sei nie etwas gewesen. Dann aber kam der 14. Juli 2021. Und danach war klar: Einerseits hatte zwar gerade die alte Bausubstanz mit ihren dicken Mauern den Wassermassen getrotzt, während die anliegende Scheune sowie drei Häuser wesentlich jüngerer Bauart nebenan einfach weggerissen worden waren. Andererseits macht der Status als Denkmal den ohnehin komplizierten Wiederaufbau nicht so leicht. Im Gegenteil.
Im Innern hatte sich das Haus mit Schlamm, Wasser, Öl und wer weiß was noch für Stoffen, die nicht ins Wasser und schon gar nicht in ein Wohnzimmer gehören, vollgesogen. Und nachdem Bianca Wurst am Abend der Flut allein in dem Fachwerkgebäude eingeschlossen war, keine Gewissheit über Leben oder Tod ihrer Familie draußen gehabt und sich ins zweite Obergeschoss geflüchtet hatte, »weil mir das Wasser innerhalb von zehn Minuten bis zum Brustkorb stand und ich die Haustüre nicht mehr aufbekam«, und nachdem Wochen später all der Dreck aus dem Fachwerkbau geschippt und die vom Aufprall eines mitgeschwemmten Traktors eingerissene Außenwand wieder zubetoniert worden war, legten die Wursts im Erdgeschoss Hand an. Sie zogen eine zweite, eine sogenannte Abhangdecke zur Stabilisierung unter die alte Fachwerkdecke ein. »Wir mussten handeln.«
Bis sie plötzlich über die Kreisverwaltung den Hinweis aus dem Mainzer Landesamt für Denkmalpflegen erhielten, dies sei nicht erlaubt. Es handele sich ja um ein Denkmal. Da könne nicht einfach eine neue Decke eingezogen werden. So seltsam es klinge: »Wir wussten gar nicht, dass das ein Denkmal ist. Es hatte sich bis dahin nie irgendwer bei uns gemeldet oder uns deswegen angesprochen.« Man könne auch sagen: »Mit der Flut kam das Denkmal«, spricht Bianca Wurst hörbar sarkastisch. »Wir hatten gerade den ersten Schock überwunden, da kamen die mit so was.« Die Folge: Panik. Eine nochmal potenzierte Existenzangst. Und Gedanken der Art: »Da will ich nicht mehr rein.«
Glücklicherweise vermittelte nach viel Aufregung und Ungewissheit die Untere Denkmalschutzbehörde in Ahrweiler. Am Ende konnte die Decke dann doch ohne die angedrohten, nach Aussage der Wursts eklatant hohen finanziellen Konsequenzen bleiben. Darum gekümmert hatte sich bei der Kreisverwaltung Annette Willerscheid, die nach eigener Aussage seit Juli auf Hochtouren arbeitet, privat selbst von der Flut betroffen ist und die manchmal »gar nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht«. Sie ist nicht nur im Falle der Familie Wurst überzeugt: »Da muss man einfach auch mal Verständnis haben für die Notlage der Menschen.« Und es klingt ein bisschen wie »Basta!«, wenn sie das sagt. Bürokratie hat ihre Grenzen, wenn es um Existenzen geht.
Mobile Hilfstruppe im Flutgebiet
Gleichwohl weist Annette Willerscheid trotzdem darauf hin, dass man auch die Denkmalpflegenden des Landes »irgendwie« verstehen müsse: »Deren Aufgabe ist es nun einmal, Denkmale zu erhalten.« Und das führe natürlich gerade durch ein so einschneidendes Ereignis wie im Ahrtal zwangsläufig zu Konflikten – was Steffen Skudelny als Leiter der Denkmalschutzstiftung bestätigt: »Da ist in der Zeit unmittelbar nach der Flut von Unkundigen – Wenn auch im besten Willen! – viel falsch beraten worden.« Da sei es nach dem Motto gegangen: »Hauen Sie alles raus! Alle Putze! Alle Fassungen! Das ganze Holz!« Und dann: »Haben Sie am Ende ein ruiniertes Baudenkmal.«
Um dem entgegenzuwirken, habe die DSD unter anderem eine »Jugendbauhütte« genannte Hilfsgruppe eingerichtet. »Die war die ganze Zeit vor Ort. Und die wird auch in diesem Jahr als mobile Truppe im Flutgebiet umtriebig sein.« Deren Mitglieder würden »mit Hand, Werkzeug und Material« helfen, die Denkmale wieder instand zu setzen. Zudem habe man seitens der Stiftung die eigenen Fachleute auch mit Expert*innen aus anderen Regionen vernetzt. »Es ging darum, Architekt*innen, Handwerker*innen und Restaurator*innen zu gewinnen, die sich dann ein oder zwei Objekten in einer Art Patenschaft widmen.«
Den zweifelsohne größten Beitrag indes leistete die DSD mit ihrer Notfallhilfe. Denn es ist Geld, das sofort an Betroffene ausgezahlt wurde. »Es ging uns darum, die Menschen in ihrer ersten Not abzuholen«, sagt Steffen Skudelny. Bislang habe die Stiftung zwei Millionen Euro investiert. Weitere zwei Millionen stünden ab jetzt bereit. Und: Es gebe schon wieder neue »In-Aussicht-Stellungen« in Millionenhöhe für die nahe Zukunft. Das alles sei maximal unbürokratisch: »Unsere Referenten haben sich die Situation vor Ort angesehen und mit den Menschen gesprochen. Haben Solidarität gezeigt und Mut gemacht. Denn viele waren ja verzweifelt und konnten sich erstmal gar nicht vorstellen, dass es weitergeht«, betont Steffen Skudelny. »Dann haben wir die Mittel zur Verfügung gestellt.« Für Lüftungsgeräte, für Trocknungsgeräte, für Werkzeug zum Aufräumen, für statische Notsicherungen. »Als private Stiftung können wir das sehr schnell«, sagt der DSD-Leiter und denkt, »dass wir von den Hilfsorganisationen die erste waren, die wirklich Geld abgeliefert hat«. Ein »sehr wichtiges Zeichen« sei das gewesen. Denn: Die Hilfe des Bundes sei zu »träge«. Zu bürokratisch eben – und somit eher ein weiteres Problem denn Lösung. Annette Liebeskind wird noch deutlicher: »Da ist viel zugesagt worden – und doch wenig Geld geflossen. Das haben wir immer wieder in den Anträgen der Betroffenen an uns gelesen oder von ihnen gehört. Es hieß: Bisher ist noch kein Cent angekommen von diesen versprochenen Millionen. Da war viel Frustration herauszulesen.«
Natürlich: Als Stiftung müssten auch in Sachen Notfallhilfe »ein paar Rahmenbedingungen sichergestellt« werden. »Es muss sich beispielsweise um ein eingetragenes Denkmal handeln. Das geht nicht anders. Das ist ja unser Satzungszweck.« Aber: »Ansonsten haben wir versucht, da wo es notwendig ist, Geld sofort zur Verfügung stellen. Und zwar ohne weitere Nachweise. Einfach nur, weil es eben ein Denkmal ist und die Leute ohnehin schon ganz viel aus ihrer eigenen Tasche investieren und in Eigenleistung erbringen – auch in Ermangelung an Handwerker*innen.« 2500 Euro seien zu Beginn »einfach so« zur Verfügung gestellt worden. Bei Beträgen darüber und bis zu 10.000 Euro hätten die Eigentümer*innen dann lediglich sagen müssen, wofür das Geld gebraucht wurde. »Da hat der Handwerker die Rechnung gestellt – und die wurde an uns weitergeleitet und bezahlt.«
»Einfach«, »lediglich«, »sofort«: Die Wortwahl ist eindeutig, wenn Annette Liebeskind spricht. Und anders als so eindeutig dürfe es auch nicht sein. Einerseits weil »die Menschen verzweifelt sind«. Andererseits weil die Stiftung nur so der Menge an betroffenen Bauten Herr werden könne. »Wir betreuen pro Jahr bundesweit etwa 500 Denkmalprojekte«, sagt sie. »Nach der Flut an der Ahr, der Erft und im Bergischen Land kamen nochmal gut 460 hinzu.« Fast 100 Prozent mehr also. Eine gewaltige Dimension.
Und doch ist sogar diese schnelle Hilfe nicht immer genug. Bianca Wurst etwa sagt, dass sie trotz der Stiftung und vieler privater Spenden eklatant in Eigenleistung treten müsse: »Es geht an unser Erspartes.« 60.000 Euro haben sie und ihr Mann bislang ins Haus gesteckt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Und durch die Denkmalschutzauflagen werde eben alles nochmal teurer. Ein Beispiel: Die zahlreichen kaputten Fenster können nicht x-beliebig erneuert werden. »Für sie müssen spezielle Holzfenster eingesetzt werden.« Die kosteten nochmal knapp 50 Prozent mehr. »Aber wir werden das irgendwie schaffen. Wir nehmen diese Katastrophe zum Anlass, ganz neu zu beginnen«, sagt Bianca Wurst. Und das klingt nicht verrückt. Das klingt alternativlos.
Viele Alternativen hat auch Thomas Schäfer nicht. Der 52-jährige Schreiner besitzt mit dem Heimersheimer Bahnhof in Bad Neuenahr ebenfalls ein denkmalgeschütztes Gebäude. Erbaut 1889, kaufte sein Vater es 1989 von der Bahn, restaurierte es und vermietete die Räume – unter anderem eine ehemalige Schalterhalle und einen alten Wartesaal – als Wohnungen. Doch als im Juli die Flut kam, ließ die nur 20 Meter entfernt fließende Ahr auch hier nichts mehr so, wie es zuvor einmal gewesen war. So steht Thomas Schäfer beim Ortstermin inmitten einer Krater- und Hügellandschaft auf einem Haufen Geröll und Schutt, zeigt hinunter zu seinen in festen Arbeitsschuhen steckenden Füßen und sagt lapidar: »Tja, hier war früher mal der Bahnsteig.«
An den erinnert heute nur noch ein in der Luft endendes, abgerissenes Gleis. Das alte Bahnhofsgebäude sieht im Innern noch immer wie ein Rohbau aus. Entkernt bis auf die alten nackten Wände. Die ehemals gepflasterte Fläche vor dem Eingang mutet wie der Grund einer Baustelle vor der ersten Aushebung an. Die dicken Pflastersteine, die hier mal korrekt angeordnet auf dem Boden lagen, sind jetzt zu Stapeln aufgetürmt an der Hauswand. Es sind Hunderte. »Die haben wir nach der Flut, nachdem hier Laster und Autos vorbeigeschwommen sind, überall in der Umgebung verteilt wieder aufgesammelt. Mit der Hand«, erinnert sich Thoms Schäfer. Immerhin: Im Erdgeschoss des Gebäudes hat er zumindest schon mal eine Betonplatte über die Decke des darunter liegenden Gewölbekellers gegossen. In Eigenarbeit. Nützte ja alles nichts. »Der alte Holzboden musste raus. Da war überall öliger Schlamm in die Fugen und das Material gezogen.«
Bezahlt hat ihm das niemand. »Weil die ISB nicht in die Pötte kommt«, wie Thomas Schäfer salopp sagt. Er meint die Investitions- und Strukturbank des Landes. Die soll von Staatsseite aus mit Geld helfen. Eigentlich. Thomas Schäfer muss lachen und hört sich dabei an, als könne er sich nicht so recht zwischen verbittert und belustigt entscheiden. »Wir müssten theoretisch erst auf einen von der ISB bestellten Gutachter warten und dann eine externe Firma alles erledigen lassen.« Und das dauere schlichtweg zu lang für eine Sache, die schnell erledigt werden müsse und die er als gelernter wie passionierter Handwerker ja auch selbst erledigen könne. »Wenn ich warte, bis sich da was tut, ist hier nichts mehr zu retten.« Passend dazu berichtetet der General Anzeiger aus Bonn am 17. Januar 2022 davon, dass tatsächlich erst 31 Anträge auf Fluthilfe von der ISB bewilligt worden seien. Von Tausenden. Und dann, sagt Thomas Schäfer und schüttelt gleich nochmal den Kopf, sei da ja auch noch die Sache mit den Mieten. Die gingen ihm seit dem Sommer ja auch Monat für Monat flöten, während seine Mieter*innen wiederum praktisch wohnungslos seien. »Ein Unding ist das.« Vor allem wenn man bedenke, dass man sich in dieser Zeit nach der Flut sicherlich alles leisten könne – nur keinen brach liegenden Wohnraum. »Den benötigen derzeit doch so viele Menschen.«
Thomas Schäfer geht letztlich davon aus, dass er im schlimmsten Fall fast eine halbe Million Euro in die Herrichtung seines denkmalgeschützten Gebäudes wird stecken müssen, zu dem auch ein Lagerschuppen mit seiner derzeit ungenutzten – weil ebenfalls zerstörten – Schreinerei gehört. Mehrere Menschen seien bereits auf ihn zugekommen: Ob er denn nicht verkaufen und das alles hinter sich lassen wolle, haben sie ihn gefragt. Verlockend. Aber Thomas Schäfer lehnte ab. »Ich verkaufe nicht. Ich habe schon so viel in dieses wunderschöne Gebäude gesteckt – das gebe ich nicht einfach so her.« Thomas Schäfer hat eine selbstgewählte Verantwortung für dieses Denkmal, für dieses Kulturgut. Er will das jetzt durchziehen – und zwar nach seinen Vorstellungen und auf seine Art. Welche das ist? »Na ja«, sagt er. »Eins habe ich gelernt: Man darf nicht viel fragen. Denn wer viel fragt, der bekommt auch viele Antworten. Zu viele.« Man müsse »einfach machen« stattdessen.
Das klingt nun weder böse noch verrückt. »Einfach machen« und »Sieht doch schon richtig gut aus hier« – das ist der Klang des Trotzes 2022 im Ahrtal. Eines Trotzes, der zeigt: Hier, in dieser Region mit diesen tapferen Menschen, hat noch niemand irgendwas abgeschrieben.