Anfang März hat der Vatikan die Archive aus der Zeit des vor allem wegen seiner unklaren Haltung zum Nationalsozialismus umstrittenen Kirchenoberhauptes geöffnet. Zu den ersten, die das Material sichten durften, gehörten Hubert Wolf und sein Team. Im Interview mit kultur.west berichtet der Münsteraner Kirchenhistoriker von Entdeckungen der ersten Tage und von Erwartungen für die kommenden Jahre.
kultur.west: Herr Wolf, Sie hatten lange auf diesen Tag gewartet. Jetzt war es so weit. Die Vatikanischen Archive zum Pontifikat von Papst Pius XII. wurden geöffnet. Sie sind mit einem Team von sechs Wissenschaftlern und einem Sack voll zum Teil hochbrisanter Fragen angereist. Was war es für ein Gefühl, erstmals in diese Unterlagen schauen zu dürfen?
WOLF: Ich forsche seit rund 40 Jahren in den Archiven, meine Mitarbeiter auch schon seit mindestens zehn Jahren. Aber natürlich war es ein ganz besonderer Moment, nun erstmals den Bestand zu Pius XII. aus den Jahren 1939 bis 1958 einsehen zu dürfen. Es sind Quellen zu Fragen, die mich ein halbes Leben lang beschäftigen. Und es war ein außerordentlicher Vertrauensbeweis, dass der Vatikan unserem Münsteraner Team gleich sieben von den insgesamt nur 30 Arbeitsplätzen dort zur Verfügung gestellt hat.
kultur.west: Warum sind diese Quellen eigentlich so lange unter Verschluss geblieben und erst jetzt öffentlich einsehbar?
WOLF: Bei den Vatikanischen Archiven ist es ganz anders, als wir es etwa von deutschen Staatsarchiven kennen, in denen die Akten je nach Quellengattung nach einer bestimmten Zeit automatisch öffentlich werden – Sachakten beispielsweise nach 30 Jahren, bestimmte Personalakten nach 50 Jahren. In den Vatikanischen Archiven werden die Quellen eines Pontifikats immer auf einmal zugänglich, wenn der amtierende Papst als »Inhaber« des Archivs das entscheidet. Die letzte Archivöffnung war 2003 zu Pius XI. Und jetzt hat Franziskus entschieden, die Archive für Pius XII. zu öffnen. Am 2. März, weil dies der Geburtstag von Eugenio Pacelli ist und auch der Tag, an dem er zum Papst gewählt wurde. Ein riesiger Bestand ist das – 400.000 Schachteln, in jeder bis zu 1000 Blatt.
kultur.west: Sie sprachen eben von Themen, die sie bereits ein halbes Leben lang beschäftigen. Sicher zählt dazu auch die Frage nach der Haltung des Papstes zum Holocaust. Man wirft Pius XII. ja vor, nicht laut genug die Stimme gegen die Naziverbrechen erhoben zu haben. Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich vom Studium der Quellen?
WOLF: Bisher kennen wir ja nur jene Dinge, die nach außen traten. Hat er geredet oder hat er nicht geredet – darüber können wir etwas sagen. Wir kennen auch jene Weihnachtsansprache von 1942 in Radio Vatikan.
kultur.west: Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits Hilferufe vor allem aus Osteuropa nach Rom gelangt waren, ging der Papst damals mit keinem Wort auf die Juden ein, bekundete aber seine Sorge über »Hunderttausende, die ohne eigenes Verschulden, bisweilen aufgrund ihrer Nationalität oder Rasse, dem Tod oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind«.
WOLF: Ja, solche Dinge sind bekannt. Wir wollen endlich herausfinden, wie, wann und woher Informationen über den Holocaust nach Rom gelangten. Wer unterrichtete den Papst worüber – und was geschah dann intern? Ab wann waren die Informationen so übereinstimmend und erdrückend, dass Pius XII. Gewissheit über die Ermordung von Millionen von Juden gehabt haben muss? Das wollen wir präzise nachzeichnen.
kultur.west: Sie hatten dafür bisher nicht viel Zeit – nur fünf Tage, dann wurden die Archive wegen der Corona-Krise geschlossen. Wie gestalteten sich die Arbeitstage? Haben Sie schon etwas Interessantes gefunden?
WOLF: Jeder Wissenschaftler kann am Tag fünf Schachteln zur Ansicht bestellen, wir haben also bisher nur einen kleinen Bruchteil eingesehen. Doch waren wir natürlich sehr gut vorbereitet und wussten genau, in welchen Serien wir suchen müssen. Und so konnten wir an diesen wenigen Tagen bereits auf unterschiedlichen Gebieten einige Spuren aufnehmen. Das Beeindruckendste und wohl auch menschlich Nahegehendste waren für uns die sehr umfangreichen Serien von Bittschriften – Briefe jüdischer Menschen, die den Heiligen Stuhl um Hilfe ersuchen und dabei vielleicht auf fünf, sechs Seiten ihre Biografie und Situation schildern. Tausende von Geschichten kommen da zusammen, das hätten wir in dieser Breite nie erwartet.
kultur.west: Können Sie ein Beispiel geben?
WOLF: Da gibt es die Geschichte von Elisabeth Einstein, einer zum Katholizismus konvertierten Jüdin, die mit ihrem Mann und den drei Kindern, 17, 16 und 12 Jahre alt, in Stuttgart lebte. Bis 1938 hatte die Familie ein gutgehendes Eisenwarengeschäft, dann wurde sie von den Nazis enteignet und aus der Wohnung getrieben. Als Elisabeth Einstein sich im Mai 1940 an den Papst wendet, leben die fünf zusammen in einem Raum. Alles, was die Einsteins hatten, mussten sie verkaufen, weil sie nicht arbeiten durften. Man müsse unbedingt aus Deutschland raus, drängt Elisabeth Einstein und bittet den Papst um 209 Dollar für die Passage dritter Klasse in die USA. Ein Mitarbeiter des Staatssekretariats schreibt zurück und erbittet pfarramtliche Zeugnisse. Der Stadtpfarrer von Stuttgart verfasst drei Seiten, in denen er die Bittstellerin sehr positiv beschreibt und inständig bittet, der Familie zu helfen. So geht es weiter hin und her. Die Zeit verstreicht. Und als der Scheck für die Überfahrt schließlich ankommt, ist es zu spät. Die ganze Familie ist ein paar Tage zuvor deportiert worden. Elisabeth Einstein, ihr Mann Leo und zwei Kinder werden ermordet – allein ein Sohn überlebt.
kultur.west: Wie viele solcher Geschichten haben Sie gelesen?
WOLF: Ich habe fünf gelesen, jeder meiner Mitarbeiter ebenfalls mindestens fünf. Insgesamt sind es also 35, die uns eine Ahnung davon geben, wie die übrigen 10.000 aussehen. Mir ist es sehr wichtig, diesen Menschen, deren Andenken die Nazis auslöschen wollten, wieder eine Geschichte, ein Gesicht zu geben.
kultur.west: Für Einzelne hat sich der Heilige Stuhl also eingesetzt. Das Unrecht und die Not dieser Menschen waren dem Papst bewusst. Doch gibt es keine klare Stellungnahme des Papstes gegen den Völkermord der Nazis. Wie erklären Sie sich das?
WOLF: Diese politische Ebene ist viel schwieriger einzuschätzen, da sind wir nicht weit gekommen. Dazu müssten wir vor allem herausfinden, wann der Papst was wusste und wann er Gewissheit hatte. Für 1943 sind wir sehr sicher, dass im Vatikan stichhaltige Hinweise vorlagen für das, was in Polen und in der Ukraine passierte. Nicht nur schreckliche Briefe, sondern auch Fotos. In einer Kiste der Schweizer Gesandtschaft haben wir schon am ersten Archiv-Tag drei kleine Bilder entdeckt. Zu sehen sind ausgemergelte Gestalten, die nackt vor einem Massengrab stehen und dort hineingeschossen werden. Ein jüdischer Informant hatte die Aufnahmen im April 1943 an den Schweizer Nuntius geschickt, der sie sofort nach Rom weiterleitete. 14 Tage später kam die Antwort des Kardinalstaatssekretärs, er habe die Post zur Kenntnis genommen. Doch was macht der Staatssekretär mit der Information, wann berichtet er dem Papst darüber? Oder gibt es vielleicht eine Kommission, die solche Informationen gesammelt hat? Das müssen wir untersuchen.
kultur.west: Die Haltung von Papst Pius XII. zum Holocaust ist ein wesentliches Thema. Doch gibt es sicher noch andere Fragen, die von Interesse sind bei der Sichtung der Archive.
WOLF: Es sind zwei Perspektiven: Natürlich interessiert uns die Person des Papstes. Aber zugleich betrachten wir dieses Pontifikat, die Amtszeit von Pius XII., als Fenster in die Weltpolitik hinein. Beschäftigen wird uns neben Holocaust und Zweitem Weltkrieg auch die sogenannte »Rattenlinie« – also die Flucht von Naziverbrechern nach Südamerika mithilfe vatikanischer Pässe. Auch die vom Heiligen Stuhl abgelehnte Gründung des Staates Israel wird Thema unserer Untersuchungen sein. Oder die Frage, wie sich der Papst zu Fragen der Demokratie verhält – welche Rolle etwa spielte Pius XII. bei der Gründung der »Democrazia Cristiana«, der katholischen Partei Italiens. Und wie ist das eigentlich mit Europa? Adenauer, Schuman und de Gasperi, die drei katholischen Politiker und Vorreiter der europäischen Einigung, wurden regelmäßig in Privataudienzen vom Papst empfangen. Ob da nach den Schrecken des Krieges vielleicht der Plan für ein katholisches Abendland geschmiedet wurde? Damit wäre der Papst sozusagen Mitbegründer der Europäischen Union – Fragezeichen…
kultur.west: So viele Fragen und 400.000 Schachteln voll Papier. Das klingt nach einer unendlichen Forschungsgeschichte. Wie wollen Sie vorgehen? Gibt es einen Zeitplan?
WOLF: Von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung haben wir Geld für zwei Jahre, in denen wir Sondierungen vornehmen werden. Wir werden dabei mit einem Katalog von 20, 30 Fragen in die Archive gehen und versuchen, durch Probebohrungen festzustellen, ob sich die eine oder andere Frage mit Hilfe des Materials in neuer Weise beantworten lässt. Dann werden wir uns in Abstimmung mit Kolleg*innen aus der ganzen Welt auf zwei, drei Themen konzentrieren – jedes für sich wird rund zehn Jahre Forschungsarbeit beanspruchen. Wenn wir uns etwa zum Thema Holocaust verbindlich äußern wollen, dann sollten wir alle Berichte, die es dazu gibt, in diesen Millionen von Papieren gesehen haben. Denn es hilft ja nichts, Einzelfunde anzuschauen. Am Ende braucht man ein Gesamtbild.
Vor dem Eingang des Vatikanischen Apostolischen Archivs in Romsteht Hubert Wolf (ganz links) mit seinem Forscher-Team. Der Kirchenhistoriker wurde 1959 im schwäbischen Wört geboren und lehrt seit über 20 Jahren in Münster. Wolf ist Priester, Leibniz-Preisträger und sei den »Konservativen ein Dorn im Auge«, wie es im Internetportal der katholischen Kirche heißt. Im jüngsten seiner zahlreichen und vielbeachteten Bücher etwa fordert Wolf die Abschaffung des Zölibats.