TEXT: ANDREAS WILINK
Es wird Licht. Wenn das kein Anfang ist – zumal für die Lichtmaschine Kino. Bildwerdung. Langsames Erröten, der Vorschein des Tages, Finsternis, die sich erhellt, Vogelstimmen, Gezirpe, Schritte, Flugzeuggeräusche, das Licht von Häusern in der Ferne am Rande des Bildes in »Double Dawn« (Lukas Marxt). Etwas geht vor! Aber was? Kaum angebrochen, schon beendet. Denn der Film – statisch gestellt und in Echtzeit – lässt den Tag aus und geht übergangslos von der Morgendämmerung in eine Sonnenfinsternis über. Dazwischen das Nichts. Am Ende sehen wir klarer: ein grau schraffiertes, von der Wunde Tagebau ge- und verformtes Kraterschüssel-Terrain mit Serpentinen-Wegen (eine Ranger Uranmine in Australien), auf denen ein rotes Auto kurvt.
Die komplementäre Bewegung dazu zeigt »Orbitalna« (Marcin Malszczak): Golden gleißt das Licht über dem Förderband in steiniger Landschaft. Wo endet der Mensch, wo beginnt die Maschine, an der er oder sie arbeitet? Es ist die Reflexion dieser Beziehung in einem experimentellen Formversuch, der das Material der Werk- und Fahrzeuge, der Schrauben, Kabel und Stahlstreben, von Rost, Staub und Lack wie im Farbfilter zeigt.
September 2013, vormittags bis zum Abend. Eine Eckkneipe in Hamburg nahe Großneumarkt: »Kurze Ecke« heißt das Lokal und der Film von Bernd Schoch. Einfache Leute, wie man sagt, als wären die weniger komplex. Man riecht den Rauch, hört norddeutschen Tonfall. Karten- und Würfelspiele, blinkende Spielautomaten, Theken-Talk, Wimpel und Trophäen an der Wand. Das geht nur in Schwarzweiß – eine Geschichte wie von Wolfgang Kohlhase erdacht oder von Käutner inszeniert in einem poetisch erhärteten Realismus. Große Freiheit, Nummer egal. Das waren noch Zeiten. Die Kamera schaut zu. Zwischendrin werden Wirtin Helga, die in Fotoalben blättert, und ihre Gäste befragt. Wären wir in New York, käme Harvey Keitel vorbei. Hans Albers und Manfred Krug sind ganz nah. Unbehauene Gesichter wie vor 50 Jahren. So oder so ist das Leben. Dass es der Tag der Bundestagswahl ist, erfährt man so nebenbei – der Fernseher läuft, die Berichterstattung wird kommentiert. Aber der Termin ist ein Statement. Sind es doch politische Entscheidungen, die soziale Werte definieren, Entwicklungen lancieren, Milieus verändern. Was vom Tage übrig bleibt: Klarer Sieg für Merkel. »Kommt gut nach Hause, schönen Abend.«
DER MENSCH WIRD ABGEBAUT
In Süditalien geht es naturgemäß bunter zu: In der Dorfkneipe (»Padrone e Sotto«, Michele Girigliano) tun die bäuerlichen Einheimischen ungefähr das Gleiche wie nördlich der Alpen – trinken, spielen, schwatzen. Auch die soziale Situation ähnelt sich. Wo Schoch in »Kurze Ecke« kräftig reduziert, malt Girigliano in Farbe aus, geht an die Luft, zielt auf Genreszenen, steht mehr in der Erzähltradition. Und balanciert in seinem Soziogramm auch Spannungen einer geschlossenen Männergesellschaft aus.
Der Mensch wird abgebaut. Soziale Härte, Hartz IV, Transfergesellschaft, Tränen. Gewiss. Aber nicht ohne Komik, vielleicht unbeabsichtigt und keineswegs, um den Ernst der Sachlage zu verkleinern, zeigt »Hier sprach der Preis« (Sabrina Jäger), wie etwas ein Ende nimmt. Es sieht aus wie ein Sketch und ist doch kein Witz. Alles muss raus. Der Praktiker Baumarkt in Bruchsal-Heidelsheim macht dicht. 90 Prozent auf fast alle Restbestände – wie ein running gag kommen die monotonen Lautsprecher-Durchsagen. Die meisten Regale sind leer. Zwei Mitarbeiterinnen und ein Kollege blieben übrig. Wenige Kunden noch, die streunen, maulen, feilschen. Die Korbwagen rasseln. Das System verdaut sich selbst. Ein bisschen erinnert es (auch wegen des baden-württembergischen Dialekts und der Versuche in Englisch) an einen Praunheim-Film der frühen Jahre. Ein Kleinbürgerdrama.
Ein Zerfall. Ein Drogenpaar in Sankt Petersburg: »How to deal with Freedom«, fragten sich Ljoscha und Schanna in den 1990er Jahren, als die Grenzen aufgingen und der Stahl brach. »Wenn es blendet, öffne die Augen« (Ivette Löcker) ist das Porträt der Post-Perestroika an ihren zerschlissenen Rändern. Zwei Kaputte (samt der Mutter Ljoschas in der gemeinsamen Wohnungsenge), die von Tag zu Tag über-leben, aber seit langem überm Grab tanzen, sie sterbenskrank, im Rollstuhl, halb gelähmt, auf Methadon. Aber sie sind beieinander. Zwischen der Abhängigkeit vom Heroin und ihren gegenseitigen Abhängigkeit bleibt etwas Raum für heilsame Wärme. Zwischendurch büxt der Film aus in ein Punkkonzert: rebellische Auflehnung, für die im Alltag der Zwei keine Kraft mehr ist.
OMA IST TOT
Eine Familie auf dem Land. Sonne, Spätsommer, viel Grün. Ein blondes Mädchen streift umher. Ein Hund hält Wache. Ein Idyll? Plüschiges Wohnzimmer, abgezogene Betten. Der Lattenrost liegt da wie ein Thorax. Gestapeltes Geschirr, auf der Kommode sortierter und begutachteter Schmuck. Es ist alles zu aufgeräumt. Bald wird neu gestrichen. Der Titel »Heimsuchung« (Henrike Meyer) lässt etwas ahnen. »Oma Lulu ist gestorben«, singen die kleinen Kinder. Sie war zuletzt dement, ein Pflegefall und ihrer Würde verlustig gegangen. Haushaltsauflösung. Das hat seine Ordnung. Denn das Leben ist aus den Dingen gewichen. Die Überlebenden, jünger oder älter, richten sich darauf ein. Erinnern sich, trauern, weinen, planen. Die Dokumentation sieht manchmal aus wie ein Film von Ingmar Bergman. Man möchte Wilde Erdbeeren pflücken. Manchmal begegnet man dabei Gevatter Tod.
»Nein, die Realität ist nicht die letzte Wahrheit …«, heißt es mit einem Zitat des rumänischen Schriftstellers, KZ-Überlebenden und Exilanten Norman Manea als Prolog von »Le beau danger« (René Frölke). Auch ein Film, der zunächst nicht anders als in Schwarzweiß vorstellbar wäre – und der gelungene Versuch, eine angemessene Gestalt für Dichtung und Dichter zu finden: Texttafeln mit Zeilen aus Maneas Scheiben, atmosphärische Naturschilderungen, keine Musik, Stille. Eine lyrische Collage und fragmentarische Biografie über das anwesend Gewesene, Ungewisse, Unauslöschliche. In Momenten des Interview-Sprechens und Sich-Begebens ins Öffentliche nehmen die Bilder manchmal Farbe an. Oder verwischen. Am Ende kriechen zwei Schnecken daher, strecken die Fühler nacheinander aus. Tagebuch einer Schnecke. Ein Bild für vorsichtiges Herantasten.
Und das krasse Gegenteil. Ein Mann geht verloren, verschwindet im Eis. Dr. Alfred Diebold hat sein Leben im Video ausgiebig dokumentiert: die persönlichen Angelegenheiten, Begegnungen im Wahlkampf mit Martin Schulz, Müntefering, auf der Berlinale, seine Arbeit in Warschau, Afrika, Nepal, Libyen für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Der kleine »Lawrence« ist locker, engagiert, smart, sympathisch, unkonventionell, ein bisschen eitel vielleicht. André Siegers hat mit »Souvenir« ein irritierendes, nein, abzulehnendes Zwitterwesen gedreht, mischt hemmungslos Doku und Fiktion, suggeriert und imaginiert Privatheit, erfindet dramaturgisch Entscheidendes, scheut selbst nicht Diebolds vermeintlichen Tod. Was soll man glauben, wem trauen?
Man kann dem Leben in diesem sehr guten Duisburger Jahrgang 2014 zusehen und es verstehen. Etwa bei einer Rundreise entlang des Schwarzen Meeres (»Tristia«, Stanislaw Mucha) durch sieben Küstenländer, u.a. auf die Krim mit Bildern, die nur noch Iasons Argo vermissen lassen, und nach Ovidiopol, wo ein Denkmal für den verbannten Dichter der »Metamorphosen« steht. Ovid erzählt von Verwandlung: Wie finden sich die alten »Barbaren« in die neuen Gesellschaften, Strukturen und Systeme ein, die oft wenig anders sind, als die früheren, wo Lenin noch auf Denkmalen thront, Fatalismus und Frömmigkeit das Bewusstsein bestimmt und die Erinnerung an Kampf und Krieg. Wellen schlagen an die Strände, unterschiedslos zumindest in dieser Strömungs-Bewegung.
Etwa zur Festival-Eröffnung beim Blick zum Nachbarn Dortmund, wo die Brache des Phönix-Stahlwerkgeländes umfunktioniert wurde zum Erholungsgebiet und luxuriösen Wohnquartier im Wohlfühl-Look (»Göttliche Lage« von Ulrike Franke & Michel Loeken). Klassenverhältnisse: Die einen arbeiten am Hochglanz, die anderen geraten in den Schatten. Die – manchmal satirisch wirkende – gründliche Milieustudie und präzise Analyse (»Wir waren hier die Bronx«) zeigt, wie Strukturwandel und Gentrifizierung läuft und zum besseren Schlechteren mutiert. Der unangenehme Manager-, Makler-, Marketing-Jargon wie »Kommunikations-Architektur« oder »sauberer Hidden-Champion« kommentiert sich von allen. Ebenso das, was der Stadtteil-Polizist klar sagt: »Da werden richtige Paläste vorgezogen. Muss man einfach so sehen.« Kirche und Kneipe fehlen noch, moniert ein Rentner. »Kurze Ecke« eben.
Etwa unterwegs in Berlin und Würzburg, wo die israelische Künstlerin Tami Liberman (»Napps«) einen illegalen afrikanischen Immigranten begleitet, der sich cool als unsichtbarer Mr. X bezeichnet. In den Resten der Berliner Mauer und den erbärmlichen Camps und Behelfsunterkünften der Gestrandeten erkennt er Zweifelhaftes aus seiner Heimat wieder. Sein Filter lässt uns das für ihn Fremde wie Ver- traute gleichermaßen neu betrachten. Was die Duisburger Auswahl insgesamt tut.
Duisburger Filmwoche: 3. bis 9. November 2014; www.duisburger.filmwoche.de