St. Gertrud im Kölner Agnesviertel fällt zunächst gar nicht so sehr ins Auge. Die Kirchenfassade tritt etwas von der Straße zurück und ist hinter zwei Bäumen halb versteckt. Neben einem kleinen Hof schließt das Pfarrzentrum an die Blockgrenze an. Mit seiner schlichten Waschbeton-Fassade mit Fensterbändern könnte es auch eine Schule oder ein Bürohaus sein. Das stärkste Zeichen setzt da der freistehende Glockenturm mit seiner asymmetrisch gefalteten Spitze. Gottfried Böhm konzentriert das Erlebnis im Inneren der Kirche – und zeigt damit seine ganze Meisterschaft. Zwei dunkel gefärbte Schmuckfenster lassen nur wenig Licht in den unteren Teil des Raumes, oben inszenieren drei Fenster in den Apsiden die kristallin gefaltete Betonkuppel. Ein Meisterwerk der Raumwirkung, das Besucher*innen unmittelbar einnimmt und zur Ruhe bringt. Nicht umsonst wird St. Gertrud auch in Anlehnung an den berühmteren Böhm-Bau in Neviges »der kleine Felsendom« genannt.
Für die Ausstellung »Fluch und Segen« ist die Kirche ein Glücksfall. Zeigt sie hier doch unmittelbar, worum es geht. Nicht nur, weil sie heute bereits nur noch teilweise religiös genutzt wird und ansonsten eine Kulturkirche ist. Sondern auch, weil die große Kraft des 1965 fertiggestellten Raumes jede andere Nutzung abseits von Gottesdiensten schwierig macht. Eine herkömmliche Ausstellungsarchitektur würde hier nur untergehen. Schautafeln mit 20 Beispielen für realisierte Kirchenumnutzungen wurden deshalb in den Unter-Altar-Raum verlegt. In der Kirche selbst ist ein Denkraum entstanden, mit Projektionen an den Betonwänden. Wie eine Sprechblase hängt das Logo der Ausstellung, ein umgedrehter Kirchenumriss, an der Wand. Dazu gibt es Texte zur Architektur von Kirchen und ihrer Funktion, zu liturgischen Begriffen und deren Entwicklung in der Moderne, manchmal auch nur einzelne Worte, die Assoziationen hervorrufen. In Böhms Architektur verschmelzen die kurzen Sätze so zu einer Meditation über Ritus und Raum, Bedeutung und Nutzen.
Im Gegensatz zu Wohn- oder gar Verwaltungsgebäuden der architektonischen Moderne, insbesondere nach 1945, genießen Kirchenbauten eine relativ breite gesellschaftliche Akzeptanz. In NRW gibt es überdurchschnittlich viele und qualitativ hochwertige Kirchenbauten, die auch unabhängig von ihrer religiösen Bedeutung identitätsstiftend für Quartiere oder Stadtviertel sind. Die Notwendigkeit ihres Erhalts und Denkmalschutzes steht weitaus seltener infrage als bei profanen Gebäuden. Aber was tun mit den 30 Prozent von insgesamt rund 6000 Kirchen in NRW, die nicht mehr von Gemeinden genutzt und unterhalten werden?
Disco oder Restaurant?
Von den Kulturkirchen gibt es inzwischen viele. Die Idee, Sakralräume durch Konzerte, Ausstellungen oder Theateraufführungen mit neuem Sinn zu füllen, ist naheliegend. Aber das Potenzial begrenzt: Der Bedarf an Kulturräumen jenseits von Museen, Konzertsälen und Theatern ist weitestgehend gedeckt. Aber die Ausstellung »Fluch und Segen« zeigt weitere Möglichkeiten: Auch andere Glaubensgemeinschaften brauchen Räume, Kirchen werden zu Synagogen oder Moscheen, durch Verkleinerungen des Kirchenraumes finden Stadtteilzentren in ihnen Platz oder sogar Restaurants. Die Varianten sind vielfältig, aber auch zugleich beschränkt. Durch den Denkmalschutz, der keine irreversiblen Veränderungen erlaubt, durch die architektonischen und auch besonderen akustischen Gegebenheiten und nicht zuletzt durch die dem Raum zugesprochene Würde. Eine Disco, ein Hotel oder ein Kaufhaus in einer Kirche sind in Deutschland oft noch unvorstellbar.
Mit dem Projekt »Zukunft – Kirchen – Räume« erweitert StadtBauKultur NRW die Diskussion. Im Frühjahr waren Gemeinden, Vereine und Initiativen dazu aufgerufen worden, ihre Kirche für eine Umnutzung vorzuschlagen. Die Hürden für die Antragstellung waren hoch. Der Zustand und die Bedeutung des Gebäudes mussten dokumentiert werden und die Bereitschaft und Befähigung der Antragsteller zur langfristigen Umsetzung des Prozesses sichergestellt sein. Der Eingang von 21 Bewerbungen ist unter diesen Vorgaben durchaus beachtlich. Zumal die in Aussicht gestellte Projektförderung weit von einem Rundum-Sorglos-Paket entfernt ist: Zu ihr gehören Unterstützungen bei der Entwicklung eines Umnutzungskonzeptes, bei Fragen des Denkmalschutzes, bei architektonischen und bautechnischen Planungen sowie der Suche nach Fördermitteln. Die tatsächliche Realisierung und letztlich auch deren Finanzierung bleibt dabei allerdings Sache der Bewerber.
Acht Kirchen wurden ausgewählt und in Köln vorgestellt: die Dreifaltigkeitskirche in Essen, die Pauluskirche in Gelsenkirchen-Bulmke, die Lukaskirche in Köln-Porz, St. Johann Baptist in Krefeld, St. Barbara in Neuss, St. Michael in Oberhausen und die ehemalige Kreuzkirche, heute Diakoniekirche in Wuppertal. Wenig überraschend ist, dass bis auf letzterer alle Bewerbungen über die Gemeinden erfolgten – in Wuppertal wurde der Antrag von der Diakonie und der bereits bestehenden Initiative Kreuzeskirche gestellt. Trotz Mitgliederschwund bringen die Gemeinden immer noch am ehesten das nötige langfristige Engagement für die Realisierung einer Umnutzungsidee mit. Einen Überblick über bereits abgeschlossene Projekte in NRW liefert eine umfassende und attraktiv gestaltete Datenbank auf der Internetseite von »Zukunft – Kirchen – Räume«. Ein Portfolio der Ideen, das auch über die Grenzen von NRW hinaus Anregungen für die Zukunft von Sakralbauten liefert. Die Projektübersicht wird ständig erweitert. In ein paar Jahren könnten dort dann auch die jetzt ausgewählten Kirchen zu finden sein – mit neuen Ideen für die Zukunft sakraler Baudenkmäler.
»Fluch und Segen«
St. Gertrud in Köln
bis 10. November