TEXT STEFANIE STADEL
Was steckt dahinter? Eine splitternackte Liebesgöttin, die der Vorhang verhüllt? Oder sucht Maria mit ihrem Kind Schutz zwischen den Schleiern? Was hat der umstrittene Kardinal zu verbergen, wenn er sich zur Hälfte hinter die gemalte Gardine hockt? Und warum steht da ein VW-Käfer so sorgfältig bedeckt und verschnürt im Museum?
Der Blick auf die textile Hülle stachelt die Neugier an, nicht erst seit gestern. Schon den im alten Griechenland berühmten Künstler Zeuxis überfiel das Verlangen, jenen lästigen Sichtschutz beiseite zu schaffen und das Geheimnis zu lüften. Sein beherzter Griff allerdings ging ins Leere: Der Vorhang, den er fassen wollte, war mit Farben auf die Wand gebracht. Sein Kollege und Konkurrent Parrhasios hatte die Augentäuschung ausgeheckt und damit den legendären Wettstreit der beiden besten Maler der Antike für sich entschieden. Zeuxis musste sich geschlagen geben. Zwar war es ihm gelungen, Vögel zu locken, die herbeiflogen, um seine bloß gemalten Trauben anzuknabbern. Doch Parrhasios konnte es noch besser: Sein Fake-Vorhang täuschte nicht nur Spatzen, sondern führte selbst den sachkundigen Betrachter hinters Licht.
Das Thema ist uralt und scheint uferlos. Vorhang und Schleier, das Zeigen und Verbergen, das Ver- und Enthüllen erweisen sich geradezu als Schlüsselthemen der Kunst. Dabei ist und bleibt Plinius’ alte Story vom Maler-Duell aktuell. Die Renaissance entdeckte sie wieder, im Goldenen Zeitalter der Niederlande erlebten die antiken Malerhelden dann einen regelrechten Boom. Selbst noch hinter Gerhard Richters Vorhang – gemalt in bekannter Manier nach fotografischem Vorbild – ist eine Anspielung auf Parrhasios zu vermuten: Genauso muss es aussehen, wenn man die virtuose Mimesis des Griechen ins Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit fortspinnt.
Bei seinem Finale im Museum Kunstpalast dreht Beat Wismer noch einmal auf. In seiner letzten Ausstellung will der scheidende Museumsdirektor das Mammut-Thema in diversen Facetten quer durch sieben Jahrhunderte verfolgen. Allerhand Background liefert die Forschung, die seit den 1990er Jahren Interesse an dem Motiv zeigt. Eine umfassende Ausstellung gab es bisher nicht dazu, was das Unternehmen noch attraktiver macht. Zwar bedauert Wismer in seinem einführenden Katalogtext ausführlich die Abwesenheit manch eines besonders treffenden, leider schwer entleihbaren Werks. Trotzdem kann sich sehen lassen, was Düsseldorf zusammenbringt.
Allen voran Tizians sonderbares Bildnis des Filippo Archinto, der zur Hälfte hinter einer dünnen Gardine verschwindet. Wismer fing Feuer, als er dem Kardinal im Philadelphia Museum of Art erstmals gegenüberstand. Mit der Begegnung habe die Inkubationszeit des Projekts begonnen, sagt er. Als sich die Möglichkeit abzeichnete, das grandiose Gemälde zu entleihen, sei die Arbeit dann richtig losgegangen.
In Düsseldorf macht das Porträt von 1558 sehr schön deutlich, was sich anstellen lässt mit so einem Vorhang. Zum einen nutzt Tizian das Textil, um sein Können vorzuführen – bewundernswert die Delikatesse, mit der er den halbtransparenten Schleier und das schemenhafte Dahinter einfängt. Aber das ist nicht alles. Gewiss hat die ungewöhnliche Inszenierung ihren Sinn. Den Schlüssel dazu liefert die Situation des Porträtierten: Filippo Archinto hatte sich hervorgetan im Konzil von Trient, mit dem die katholische Kirche auf die Lehren und Forderungen der Reformation reagierte. Der Papst berief ihn deshalb zum Erzbischof von Mailand. Die kleinmütigen Mailänder wollten den Reformer aber nicht und schafften es, seinen Amtsantritt zu verhindern.
Da sitzt er nun. Tizian erfasst haarscharf seine Lage: Das Buch der Verkündigung zeigt der Maler schwer erkennbar hinter dem Vorhang, während Archintos Amtsring am rechten Ringfinger deutlich sichtbar bleibt. Es fällt der aufmerksame Blick des freien rechten Auges auf – der Kardinal wirkt hellwach, zum Sprung bereit, er könnte sofort zupacken. Höbe sich der Vorhang, so käme er komplett zum Vorschein, jener machtvolle, gefürchtete Mann.
Es ist immer wieder das effektvolle Spiel des Versteckens und Enthüllens, das in der bildenden Kunst seit Jahrhunderten auf unterschiedlichen Ebenen gespielt wird. Ohne das Vorbild echter Vorhänge wäre es kaum dazu gekommen. Einst hingen sie vornehmlich vor heiligen Bildern und dienten dort nicht allein dem Schutz vor Licht, Schmutz, Fliegendreck. Eine willkommene Begleiterscheinung war Neugier, die das Tuch erweckte – Zeuxis weiß davon… Ebenso wie der Grieche fühlten sich vielleicht die Gläubigen, wenn sie der Enthüllung entgegensahen. Selten genug kam es vor, dass die Schleier fielen und sich das vormals Verborgene gleich einem Wunder offenbarte – das Göttliche gleichsam in die Welt einbrach. Sensationell.
Bei Hans Holbein d. Ä. halten drei Englein das grüne Tuch. Gleich einem himmlischen Baldachin umfängt es auf der Tafel von 1520 Mariens Kopf – erhebt die Mutter Gottes zur Regina coeli. Anders sieht der Vorhang gut hundert Jahre später bei Rembrandt und seinen Helfern aus: als ob die Gardinenstange an den Bilderrahmen montiert und der Stoff daran befestigt sei. Ein Imitat, das scheinbar vor dem tatsächlichen Gemälde hängt und so weit zur Seite geschoben wurde, dass man freie Sicht hat auf die Szene. Der Auferstandene bricht das Brot und gibt sich so zu erkennen. Nicht nur für die Jünger wird das Ereignis zur Offenbarung – auch für den Betrachter, der Gelegenheit hat, hinter den Vorhang auf das betont intim gehaltene Geschehen zu schauen.
Unter Rembrandts Zeitgenossen kam der Vorhang groß in Mode. Im Geiste des Goldenen Zeitalters wurde er dabei kurzerhand säkularisiert. Viele Sammler griffen das Requisit auf, um es stolz vor besonders schöne Stücke zu hängen, ob religiös oder nicht. Denn auch Porträts, Stillleben und Landschaften ließen sich mit einem Vorhang ohne weiteres nobilitieren. Mit Gemälden wie dem Emmaus-Mahl überführte Rembrandt das Motiv des vorgeblich echten, tatsächlich nur gemalten Bildvorhangs in die Kunst. Es konnte die Werke zwar nicht vor Verunreinigungen bewahren, aber sehr wohl ein Stück entrücken, intimer oder exquisiter erscheinen lassen.
Was steckt im Einzelfall hinter dem Vorhang? Will er Geborgenheit vermitteln oder das Dargestellte adeln, will er verbergen, enthüllen oder die Bildwahrheit zur Diskussion stellen? Das ist nicht immer klar zu sagen. Sicher aber ist: Wer den Vorhang bisher rechts oder links hängen ließ, für den kommt die Schau einer Enthüllung gleich. Zukünftig wird er das vermeintliche Beiwerk genauer betrachten. Wird – seine Formen und Funktionen im Kopf – überlegen, welche Rolle dem beinahe allgegenwärtigen Motiv zukommt.
In der Ausstellung kann man nachvollziehen, wie Stoffbahnen und üppige Faltenwürfe auch bei der effektvollen Inszenierung von Sex and Crime gute Dienste leisten. Wenn etwa Judith am Schlaflager des Holofernes das Schwert zückt und zur Tat schreitet, reißt sie ihr Opfer aus dem Schutz der Laken und Bettbehänge sozusagen ins Rampenlicht, damit uns das grausige Geschehen der Enthauptung drastisch und ohne mildernde Umstände vor Augen tritt. Sehr beliebt sind textile Draperien auch, wenn es darum geht, Susanna, Diana und andere Schöne vor den begehrlichen Blicken des männlichen Bildpersonals zu schützen. Der Witz: Während die Männer im Bild kaum etwas zu sehen bekommen, freut sich der Betrachter oft über den freien Blick auf die Nackte.
Eine originelle Ausnahme stellt die Venus des US-Künstlers Raphaelle Peales dar. Sie zeigt uns nur ihren zierlichen Fuß am unteren Bildrand und am oberen einen schlanken Arm, der in langes goldblondes Haar greift. Der Rest der Figur ist verhängt von einem 1822 in meisterhaftem Illusionismus gemalten Tuch, das beinahe die ganze Bildfläche einnimmt. Peales Antwort auf die Prüderie der jungen amerikanischen Gesellschaft, die Aktdarstellung unter Zensur stellte. Mit derartigen Verboten hat Ferdinand Hodler 80 Jahre später nichts mehr zu tun, als er seine »Wahrheit« als splitternackte Frau frontal in die Bildmitte rückt. Diesmal verhüllen sich die Männer ringsum, als Mächte des Dunklen und der Lüge können sie den Anblick der reinen Wahrheit nicht ertragen.
Auf den geordneten Rückblick folgt im Museum Kunstpalast ein ungezwungener Spaziergang durchs 20. Jahrhundert, in dem sich Vorhang und Schleier ungleich offener präsentieren. Unter den Hüllen findet nicht nur Christos VW-Käfer Platz, in Form eines Tschadors können sie auch iranische Frauen verschleiern. Am Ende des Parcours steht die Gewissheit, dass eine Ausstellung »Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance« niemals auch nur annähernd abdecken kann. Was auch Beat Wismer einräumt und bescheiden Bert Brecht ums Wort bittet: »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« Womit der Kurator sich und sein Unternehmen allerdings verkleinert. Denn von Enttäuschung kann keine Rede sein. Eher von Freude über wunderbare Malerei, über bereichernde Ideen und erhellende Entdeckungen hinter dem und um den Vorhang herum.
MUSEUM KUNSTPALAST, DÜSSELDORF, 1. OKTOBER 2016 BIS 22. JANUAR 2016, TEL.: 0211/56642100