… ist dieser große Zufall, vor 50 Jahren Pina Bausch in London getroffen zu haben – es war Liebe auf den ersten Blick. Ausgerechnet in diesem Jahr werden meine Kolleg*innen Malou Airaudo, Lutz Förster, Dominique Mercy und ich nun mit dem Deutschen Tanzpreis geehrt. Das macht mich glücklich und sehr stolz. Ich bin dankbar dafür, denn es zeigt, dass der Einsatz und die harte Arbeit geschätzt und belohnt werden. Und das gibt mir Motivation: In aller Bescheidenheit werde ich versuchen, solange ich es kann, für die Tanzwelt und die Pina Bausch Foundation da zu sein.
1973 war Pina gerade Direktorin am Wuppertaler Tanztheater geworden und suchte Tänzer*innen. Sie schaute mir in London im Dance Center von Covent Garden zu und wollte mich gleich als Solo-Tänzerin engagieren. Ich war 23, sehr schüchtern, naiv und einsam. Als sie mich ansprach, wurde ich rot und begann zu schwitzen. Mehr als »Ja, ich komme mit nach Wuppertal« brachte ich nicht heraus. Pina störte es nicht, dass ich damals etwas pummelig war. Meine ein, zwei Kilo zu viel – vielleicht waren es auch drei – waren für sie zweitrangig. Sie war jemand, der mich voll und ganz als Tänzerin haben wollte. Ihr war der Mensch wichtig und wie dieser Mensch sich bewegen konnte. Sie war neugierig auf meine Person und auf meinen Tanz. Sensationell. Sie sah mich tanzen – und sie wollte mich. Das war’s.
Das Tanzen machte mich glücklich, irgendwie war ich dazu geboren. Pina und ich haben uns danach in einem Café in der Nähe von Covent Garden verabredet. Ihr Englisch war überlagert von einem deutschen Akzent, aber relativ gut. Mit ihren wunderschönen blauen Augen sah sie mich eindringlich an. Es ging durch und durch.
Wenn Pina tanzte, wurde ich zu ihrer stillen Beobachterin. Sie war faszinierend, atemberaubend und unglaublich schön. Believe me. Charisma im Überfluss. Ihr Lächeln konnte jeden verzaubern – süß, gefährlich, charmant, ironisch, erotisch, aus jedem Körperteil machte sie Tanz – vom kleinen Finger bis zum großen Zeh. Aus Gefühlen, scheuen Blicken, einem Streicheln, Alltagsgesten, bloßen Stichworten. Aus dem Unmöglichen machte sie das Mögliche. Sie war unerschöpflich kreativ.
Ich liebte alle meine Rollen bei ihr, am meisten die, die ich zuerst getanzt habe – aber besonders den Abend »Die sieben Todsünden/Fürchtet euch nicht«. Mit 26 Jahren habe ich ihn erstmals getanzt und zuletzt mit 59 Jahren. Wenn Pina getanzt hat, wie in »Café Müller« oder »Danzon«, wirkten ihre Bewegungen grenzenlos, flüssig, groß und weich. Ihr Ausdruck war ruhig, voller Genuss und Leidenschaft. Unter jeder Bewegung lag Atem. Der Tanz war so pur. So schlicht, sinnlich, sensibel. Sie hat ein geniales Gespür für Musik. I loved watching Pina move.
Heute liebe ich es, ihre alten Stücke der ersten Dekaden wieder auf die Bühne zu bringen und an eine neue Generation weiterzugeben. Es ist noch immer der Spagat zwischen dem Beruf als Tänzerin, Assistentin, Probenleiterin und meiner Familie, der mich erfüllt.
Aufgezeichnet von Bettina Trouwborst
Name: Josephine Ann Endicott
Alter: 73
Beruf: Rentnerin, gelegentlich künstlerische Leiterin von Wiederaufnahmen alter
Bausch-Stücke und Buchautorin
Wohnort: Rastatt
Jo Ann Endicott erhält gemeinsam mit Malou Airaudo, Lutz Förster und Dominique Mercy den Deutschen Tanzpreis 2023. Sie alle gehören zu den Solisten*innen der ersten Generation von Bausch-Tänzer*innen. Die Jury würdigt diese Bühnenpersönlichkeiten neben ihrer Lebensleistung auch für »ihr bis heute unermüdliches, individuelles Engagement für den Tanz«. Im Rahmen eines Galaabends wird die Auszeichnung am 14. Oktober im Aalto-Theater Essen überreicht.