… ist meine Zeit als Metropolenschreiber Ruhr. Sechs Monate war ich im Ruhrgebiet unterwegs – und bin ohne Plan, ohne konkretes Vorhaben hierher gekommen: Ich wollte erstmal schauen, was passiert und schließlich führte eine Begegnung zur nächsten.
Ich habe Lesungen gehabt, Interviews gegeben, auf die sich ganz verschiedene Menschen gemeldet haben, deren Anregungen ich dann wiederum gefolgt bin – vom Stadionbesuch bis zu Konzerten. Ein Journalist hat mich durch Ruhrort und ein Musikwissenschaftler durch Marxloh geführt. Ich war bei den Mülheimer Wasserwerken, in zwei Schulen, bei der Emschergenossenschaft, in der Villa Hügel, auf dem Kriegsgräberfriedhof Mülheim-Broich, über den ich zunächst eigentlich gar nicht vorhatte zu schreiben. Aber in diesen Kriegs-Zeiten löst solch ein Ort unwillkürlich etwas aus. Und ich war in der Essener Philharmonie und entdecke, dass ich in einem Alfried-Krupp-Saal sitze, was mich wiederum zu einer Beschäftigung mit der Familie Krupp, mit Berthold Beitz und zu den Arbeitskämpfen in Rheinhausen führt – und plötzlich ist man im Duisburger Hafen und reist gedanklich weiter über die Seidenstraße.
Außerdem habe ich Wolfgang Welt für mich entdeckt. Ich muss gestehen, dass ich ihn bis vor kurzem nicht kannte, leider! Ich habe dann seinen Roman »Doris hilft« angefangen zu lesen. Eigentlich wollte ich nur 20, dann 40 Seiten lesen – dann habe ich ihn fasziniert bis zum Ende gelesen und muss sagen, dass das für mich ein ganz wichtiger Punkt auf der Landkarte der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte ist. Er hat so eine unvergleichliche Rückhaltlosigkeit sich selbst und seiner unmittelbaren Umgebung gegenüber, die ich bewundere, aber zugleich auch hochproblematisch finde, die ich mir nie erlauben würde. Bei ihm geht das aber auf, weil er vor allem gegen sich selbst rückhaltlos ist. Es gelingt ihm etwas daraus zu machen, was für andere relevant ist. Wenn man etwas über die 80er, 90er Jahre in Deutschland, im Ruhrgebiet, in Bochum, wissen will, dann ist sein Werk unerlässlich. Für mich ist er ein gemäßigter Henry Miller, wenn es um die Unmittelbarkeit geht, aus der heraus etwas entsteht. Dann kommt seine Schizophrenie hinzu, die er auch zu beschreiben in der Lage ist, wenn er diese ihn selbst hemmenden, dämpfenden Medikamente abzusetzen versucht. So etwas habe ich noch nie gelesen.
Zwischen Journalismus und Literatur
Mittlerweile bin ich dabei, meine Eindrücke aufzuschreiben. Es wird ein Band werden, in dem es 15 bis 20 Betrachtungen oder Essays geben soll. Für mich ist das ein schmaler Grat, der sich zwischen Journalismus und Literatur bewegt. Mein »Ich« kommt da schon vor, aber es soll auch nichts verstellen. Es gibt ja sehr viele Reportagen über das Ruhrgebiet und auch sehr gute Literatur. Natürlich ist das Ruhrgebiet keine vollkommen andere Welt, als die, in der ich mich sonst bewege. Aber es gibt schon Unterschiede. Beim Schreiben spielt ja auch immer die eigene Vergangenheit mit hinein. Andererseits habe ich für mich doch auch Neues entdeckt.
Aufgezeichnet von Annika Wind
Name: Ingo Schulze
Alter: 60
Beruf: Schriftsteller
Wohnort: Berlin
Ingo Schulze war auf Einladung der Brost Stiftung sechs Monate lang Metropolenschreiber Ruhr. Der gebürtige Dresdener wird gern auch als »Stimme Ostdeutschlands« bezeichnet, nicht zuletzt, weil er sich immer wieder auch in gesellschaftliche Debatten um die West-Ost-Thematik einmischt. Zurzeit arbeitet er an einem Essayband über seine Zeit im Ruhrgebiet, der im Frühjahr 2024 im Wallstein Verlag erscheint. Inzwischen ist die Schriftstellerin Nora Bossong in die Mülheimer Metropolenschreiber*in-Residenz eingezogen.