…und staunen lässt, ist, dass ich mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis nun die erste Auszeichnung für mein gesamtes literarisches Werk entgegen nehmen darf (bin ich denn schon so alt?). Es ist mir eine große Freude und Ehre, zumal es bedeutet, mit der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff verbunden zu sein. Damit meine ich natürlich nicht, mich mit ihr zu messen oder mein Schreiben mit dem Werk von ihr vergleichen zu wollen. Der Preis ist für mich auch eine Gelegenheit, mich mit der Namensgeberin noch einmal näher zu beschäftigen. Natürlich kannte ich Schriften der Dichterin, aber wenn man einen Preis verliehen bekommt, dann liest man das Werk noch einmal neu und oft auch ausführlicher.
Annette von Droste-Hülshoff hat sehr schöne Gedichte geschrieben, in denen aus tiefem Schauen und Fühlen heraus eine Melodie und ein Rhythmus entstanden sind. Auch ihre Prosa ist besonders. Die »Judenbuche« habe ich noch sehr jung gelesen. Mich hat – wohl auch als Deutsche – die Erzählung sehr bewegt, weil die jüdischen Charaktere so würdevoll sind und friedlich und still gegen die Anfeindungen protestieren. Am Ende vollzieht sich die Strafe für den Mord allein durch einen stillen Fluch. Die Beschreibung dieses fremden Glaubens und der Bräuche hat etwas Respekteinflößendes, wie diese Menschen zu der Buche ziehen, dort länger murmelnd stehen bleiben und anschließend die Inschrift in der Rinde steht.
Annette von Droste-Hülshoff war natürlich eine Vorreiterin insofern, als sie im 19. Jahrhundert geschrieben und veröffentlicht hat und in 100 Jahren noch gelesen werden wollte, obwohl Frauen im 19. Jahrhundert diese Rolle noch nicht zugedacht war. Sie hat außerdem komponiert und sich sogar an der Oper versucht, eine Tätigkeit, die Frauen gänzlich verschlossen war. Aber sie hat es versucht!
Ich glaube allerdings nicht, dass es einen spezifischen weiblichen Blick in der Literatur gibt, denn schließlich sind wir alle sehr viel Verschiedenes, wir lassen uns nicht auf unser Geschlecht reduzieren. Und wenn wir diese Rollenzuschreibungen von Mann und Frau loswerden wollen, können wir auch nicht auf einer »weiblichen Schreibperspektive« beharren, denke ich.
In meinem neuen Roman »Bannmeilen« geht es um eine Ortserkundung und um eine Freundschaft, die sich im Laufe des Buchs verwandeln. Ich habe einen Freund, der halb Algerier und halb Franzose und in einem Vorort von Paris geboren und aufgewachsen ist und bis heute dort lebt. Gemeinsam mit ihm bin ich, die ich nun jahrzehntelang in Paris lebe, durch die Vororte, die Banlieues gestreift. Paris und seine Banlieues sind sehr klar durch diesen Autobahnring, den Périphérique, voneinander getrennt. Nach der ersten Erkundung folgten viele weitere zu Fuß und ich bin erschrocken darüber, dass ich in all den Jahrzehnten, in denen ich so nah am Stadtrand wohnte, nie die Neugier oder das Interesse aufgebracht habe, die Welt hinter dem Périphérique zu erkunden. Aus diesen Erkundungen entstand schließlich ein Roman, der zwei verschiedene Blickwinkel aufeinandertreffen lässt und immer wieder Rollen verteilt, aber auch aufzubrechen versucht. Die Erzählerin ist eine weiße Europäerin, die in Paris lebt, sie wandert mit einem algerisch-französischen Freund umher, der in der Vorstadt lebt. Bei ihren Streifzügen reden sie viel (ich habe noch nie so viele Dialoge geschrieben) und konfrontieren ihre sehr unterschiedlichen Perspektiven auf die Dinge. Ziemlich früh stoßen sie auf ein Café, wo die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen: Franzosen und Nicht-Franzosen, Alte und Junge, Männer und Frauen, was in den Banlieues nicht allzu häufig ist. Das Café und die Stammgäste und deren Geschichten bilden das Herzstück des Romans.
Wir haben alle eine klischeehafte Vorstellung von der Banlieue, dabei gibt es darin so viel mehr als Armut und Drogengeschäfte. Neben einer heruntergekommenen Wohnsiedlung steht ein Hindu-Tempel, dann kommt eine Autobahnbrücke und dahinter die feinen neuen Gebäude der Banque de France, wo die größten Geldreserven Europas liegen. Diese ständigen Überraschungen haben mich fasziniert. Meine Alltagssprache ist französisch, aber trotzdem schreibe ich meine Bücher zuerst auf deutsch, bevor ich sie ins Französische übersetze. Daraus kann ich einen Abstand gewinnen, der einen anderen Blick auf die Dinge ermöglicht. Der Titel des Buches »Bannmeilen« verdeutlicht dies ganz gut, weil das Wort zwar die Entsprechung zu »Banlieue« ist, aber im Deutschen eine andere Bedeutung angenommen hat. Literatur, auch die der Droste, kann Fragen stellen und Zweifel aufkommen lassen. Sie kann dazu bewegen, Dinge anders zu sehen, als man sie bisher gesehen hat.
Aufgezeichnet von Jakob Stärker
Name: Anne Weber
Alter: 59
Beruf: Schriftstellerin
Wohnort: Paris
Anne Weber bekommt am 24. Mai den mit 35.000 Euro dotierten Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 2024 auf Burg Hülshoff in Havixbeck überreicht. Sie habe sich in ihrer Prosa auf unverwechselbare Weise mit europäischer Geschichte auseinandergesetzt und dabei auch in der Form mit jedem ihrer Bücher Neuland betreten, urteilte eine sechsköpfige Jury, die der Landschaftsverband Westfalen-Lippe einberufen hatte. Anne Weber wurde in Offenbach am Main geboren, lebt aber seit 40 Jahren als freie Autorin und literarische Übersetzerin in Paris. Für ihr Buch »Annette, ein Heldinnenepos« wurde sie 2020 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Anne Weber liest am 26. Mai im Alten Progymnasium Rietberg aus »Annette, ein Heldinnenepos«
Anne Webers »Bannmeilen« ist im Verlag Matthes & Seitz erschienen (301 Seiten, 25 Euro)