Kommentar: Ulrich Deuter
Am 9. Mai hat das Landgericht Hagen in mündlicher Verhandlung dem Theater der Stadt untersagt, »Ehrensache« weiterhin aufzuführen. Das Stück des renommierten Dramatikers Lutz Hübner war im Januar 2006 auf der Jugendbühne »Lutz« des Hagener Hauses herausgekommen, wenige Wochen nach seiner Uraufführung am Grillo-Theater Essen, das das Jugendstück bei Hübner in Auftrag gegeben hatte.
»Ehrensache« handelt von Jugendlichen in türkischen Migrantenkreisen; während das Mädchen Elena das aufgeklärte Frauenbild ihrer neuen Heimat erprobt, vielleicht auch mit ihm kokettiert, klammert sich vor allem der junge Mann Cem am archaischen Geschlechterrollenverständnis seiner Vorväter fest. Die sexuell konnotierten Provokationen Elenas bringen ihn um den Verstand und seine »Ehre«, er tötet das Mädchen mit dem Messer. Das Stück wird durchgängig als außerordentlich gelungen gelobt, als psychologisch genaue Charakterstudie über Jugendliche zwischen den kulturellen Stühlen, als längst überfällige Auseinandersetzung mit der Kollision von Werten und Rollen in der Migrationsgesellschaft. Diese Qualität ist »Ehrensache« nun zum Verhängnis geworden, denn das Landgericht (wie zuvor schon das OLG Hamm in einer Einstweiligen Verfügung) erkannte in dem Stück die Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts eines realen Mordopfers, der 14-jährigen Halbtürkin Filiz R., die im Mai 2004 unter ganz ähnlichen Umständen wie im Stück von dem türkischstämmigen Baris G. erstochen worden war. Denn Elena sei leicht als Filiz zu erkennen, das Mädchen aber werde in Hübners Drama als fragwürdiger Charakter dargestellt, als mitschuldig an der Tat. Geklagt hatte die Mutter des Mordopfers.
Vorderhand geht es also um die Abwägung zwischen zwei Grundwerten von Verfassungsrang: der Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsschutz.In Wahrheit jedoch steht die Frage um Auftrag und Rolle der Kunst im Raum. Wo, wenn nicht in der Literatur oder auf dem Theater, ist der Ort, an dem nicht nur rational-argumentativ, sondern in der gesamten Bandbreite menschlichen Handelns offene gesellschaftliche Fragen gestellt, ausgelotet und spielerisch-ernst gelöst werden könnten? Gerade das Pseudoreale der Kunst ist es, das diese Chance bietet. »Werther«, die Gretchen-Tragödie im »Faust«, »Effi Briest«, Klaus Manns »Mephisto« und Dutzende anderer Kunstwerke hatten reale Vorkommnisse zum Anlass – Anlässe, die diese Kunstwerke nicht ausschlachteten, sondern die sie beispielhaft zu sozialer oder historischer Bedeutung hin erweiterten.
Das ist bei »Ehrensache« nicht anders. Denn »Ehrensache« ist kein Doku-Drama. Vom Anwalt der Klägerin wurde Lutz Hübner während der Gerichtsverhandlung unterstellt, er habe sich die Akten des Mordprozesses verschafft; Hübner, bei der Verhandlung nur als Zuschauer anwesend, konnte dies nicht richtigstellen, im Gespräch mit K.WEST betont er, alle »realen« Anteile seines Bühnenstücks lediglich der Presse entnommen zu haben: das Milieu, das Alter, die tödlich endende Autofahrt der vier Jugendlichen. Der Rest entsprang der Phantasie des Autors – dieser »Rest« aber ist bei Kunstwerken das Ganze, das Entscheidende. Wie groß ist der Anspruch einer Privatperson auf Schutz vor den Blicken der Öffentlichkeit? Sicherlich groß. Ebenso groß aber ist der Anspruch der Öffentlichkeit auf Klärung der sie betreffenden Fragen. Ist ein Bundeskanzler kokainsüchtig, ist dies nicht mehr seine Privatangelegenheit. Wird ein Mensch getötet, ist es nach unserer Rechtsauffassung Sache der Justiz, dies zu ahnden – mithin der Öffentlichkeit. Das Mädchen Filiz und ihr Mörder Baris sind durch die grauenhafte Tat aus der geschützten Privatsphäre in die öffentliche geraten – nicht durch das Bühnenstück. Ausgeschlachtet hat die Tat, bloßgestellt ihre Beteiligten die Sensationspresse von Hagen bis Köln – nicht das Bühnenstück. »Ehrensache« hingegen leistet, was weder jene Presse noch der Mordprozess wollte resp. konnte: die Einordnung, die Aufarbeitung, das Fabula docet. Der Regisseur der Hagener Inszenierung, Werner Hahn, berichtet von aufwühlenden Diskussionen unter den Schülern, die die Aufführungen von »Ehrensache « besucht hätten, gerade von solchen mit Migrationshintergrund. Ähnliches sagt der Dramaturg Thomas Laue von der Essener Ur-Inszenierung.
Voraussichtlich werden das Theater Hagen sowie Hübners Bühnenverlag in die Berufung gegen das Urteil gehen, schon allein, sagt Hübner, damit auf dem gebotenen Niveau das Stück als ganzes in seiner Intention und Wirkung gewürdigt und nicht nur, wie im Hagener Prozess, Schnipsel herausgerissen und gegen es verwendet werden. In der Tat offenbart es eine erschreckende Unkenntnis vom Wesen der Kunst, wenn die Beschimpfung der Figur Elena durch die Figur Cem als »Schlampe« vom Gericht als Herabwürdigung der realen Person Filiz gewertet wird, wie Prozessbeobachter und die Presse es übereinstimmend berichteten (bei Redaktionsschluss lag die schriftliche Urteilsbegründung noch nicht vor).
Noch ein weiterer Umstand alarmiert: Wer »Ehrensache« kennt, weiß, dass Lutz Hübner seine Elena als frech und provokant, aber auch als selbstbestimmt und mutig angelegt hat. Genau dies aber moniert die Klägerin bzw. ihr Anwalt, genau dieser Argumentation folgte das Gericht. Bedeutet dies also, dass die archaischen Wertvorstellungen gewisser Migrantenkreise vor dem aufgeklärten Frauenbild unserer Gesellschaft geschützt werden müssen? Die Antwort darauf kann nach dem Hagener »Mädchenmord«, dem Berliner »Ehrenmord «, nach Necla Keleks aufrüttelnden Dokumentationen doch nur eine sein: Nein!
Das Hagener Gericht, sagt Lutz Hübner, hat keine Zensur ausgeübt, auch wenn »Ehrensache « nun erst einmal vom Hagener Spielplan ist, auch wenn per Einstweiliger Anordnung die Essener Inszenierung beim Kinder- und Jugendtheatertreffen in Düsseldorf Anfang Mai nicht gezeigt werden durfte, auch wenn die geplante Hamburger Inszenierung schon per Anwaltspost bedroht ist. Nein, sagt Hübner, das Gericht war »nur« nicht sorgfältig genug. Allerdings sieht der Berliner Dramatiker die Bereitschaft wachsen, engagierte Kunst zu verbieten und sie damit zum gesellschaftsfreien Raum zu degradieren: »Wenn das Stück am Ende verboten bleibt, kann ich nicht mehr definieren, was mein Handlungsrahmen ist – wenn ich weiter politisches Theater machen will.« Das sehen die Theatermacher Hahn und Laue ähnlich: In Zukunft würden sich die Bühnen überlegen, Stücke aufzuführen, die bestimmten Kreisen nicht passen. Denn Aufführungsverbote kann sich eine Bühne schon aus ökonomischen Gründen eigentlich nicht leisten. //
Die nächste Vorstellung der Essener Inszenierung von »Ehrensache« ist für den 7. Juni 2006 geplant.