// Wir stehen am Beginn einer Expedition durch eine Landschaft, die wir alle kennen, aber die wir so noch nicht kennen gelernt haben: das Ruhrgebiet im Kulturhauptstadtjahr. »Kulturhauptstadt Europas« ist ja kein Zwölfmonatsfestival, dessen Events man abklappern könnte. Sondern ist eine weit mehr als einjährige, im Gelingensfall tief einschneidende Intervention. Doch der Erfolg ist unsicher, die Ergebnisse können höchst unterschiedlich ausfallen. Liverpool und Glasgow hat das Kulturhauptstadtsein in ganz neue Städte verwandelt. Luxemburg oder Weimar blieben dieselben. Eine so riesige Region wie das Ruhrgebiet ist noch nie Kulturhauptstadt gewesen – dass dies möglich wurde, gelang auch nur unter höchster Ausdehnung des Begriffs Stadt. Der Etat der Kulturhauptstadt Graz war in etwa so groß wie der der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet; Graz ist etwas kleiner als Gelsenkirchen. Trotzdem muss das Experiment Ruhr.2010 nicht am Missverhältnis zwischen der Überschaubarkeit des Budgets (65 Millionen Euro) und der Unüberschaubarkeit der Region (53 Städte und Gemeinden auf 4.400 Quadratkilometern) scheitern. Sicher, die zirka 300 Kulturhauptstadt-Projekte sind Tröpfchen auf die Steinwüste der Stadtlandschaft Ruhr. Aber ihre Verdunstungswärme könnte ein verändertes Klima erzeugen. Das ist möglich. Dafür gibt es ein historisches Beispiel: die IBA Emscherpark, die einen enormen Wandel im Bewusststein vom und im Selbstbewusstsein des Reviers erzeugt hat. Ein Indiz für die Fortsetzung dieses Wandels ist, dass in der Vorbereitung des Kulturhauptstadtjahres weit mehr als je die einzelnen sonst stets konkurrierenden Städte und ihre eifersüchtigen Akteure kooperierten. Der erste Schritt von uns Zuschauern und Teilnehmern in die bekannte, auf einmal ganz unbekannte Landschaft Ruhrgebiet im Kulturhauptstadtjahr muss also nicht zögernd, er kann neugierig geschehen. Er sollte wohlwollend sein, aber nicht blind.
Essen ist die Hauptstadt der Kulturhauptstadt – den »Bannerträger« der Bewerbung, wie es unnötig schwülstig hieß, krönt ab 2010 ein völlig neues Folkwang-Museum. Eine Belohnung für den Titel Kulturhauptstadt aber ist dies nicht, der Spender Berthold Beitz von der Krupp-Stiftung hätte das neue Haus, das das marode alte ersetzt, auch ohne Kulturhauptstadt-jahr hergeschenkt. Auch die Blockbuster-Ausstellungen im neuen Folkwang hätte es ohne das Kulturhauptstadtjahr gegeben – in der Tat finden die großen originären Kunst-Aktionen der Ruhr.2010 nicht in Essen, nicht in den anderen großen Städten, sondern an der Ruhrgebietsperipherie statt: in den kleinen Örtchen am Nordostrand. An der Emscher. An der Autobahn A 40.
Eine davon ist die erste Biennale für Lichtkunst. Bergkamen, Bönen, Fröndenberg, Hamm, Lünen und Unna sind ihre Orte, Namen, die nicht einmal jedem gebürtigen Ruhri geläufig sind. In diesen Städtchen, meint Biennale-Erfinder und -Kurator Matthias Wagner K, lägen die Brüche der Stadtlandschaft Ruhr dichter beieinander als in den größeren Ruhrgebietsstädten. Aber natürlich liegt eben in Unna auch das »Zentrum für internationale Lichtkunst«, das einzige Museum »weltweit«, das sich dieser Kunstform widmet – und Lichtkunst soll es sein. Denn künstliches Licht, so Wagner K, ist historisch ursächlich verbunden mit Stadt, mit Industrialisierung: »Licht erzeugt Aufmerksamkeit und Emotion, Licht ist ein Material der Moderne.« Eine Biennale für Lichtkunst war seine Vision, die erste wird nun Ende März 2010 erstrahlen. Um ab dann im Zweijahresrhythmus an wechselnden Orten in Nordrhein-Westfalen – »da wo es künstlerisch nötig ist« – aufzuglühen.
Wo es künstlerisch nötig ist – die Biennale stellt nicht aus, sie greift ein. 60 Künstler betreten 60 Wohnungen in den genannten Städten – Wohnzimmer, Kinderzimmer, Garagen, Abstellkammern, Fitnessräume, Dachböden –, um mit einem Lichtkunstwerk auf die Architektur und das Ambiente, die Geschichte und den Charakter der dort lebenden Menschen zu reagieren. Es sind ausgewiesene bekannte Lichtkünstler wie James Turrell, François Morellet oder Dan Flavin – aber auch solche, für die Licht eines von mehreren Materialien darstellt wie Christian Boltanski, Joseph Kosuth oder Mischa Kuball. Für alle aber gilt: Dieses Kunstwerk an diesem Ort, das wird es nur einmal geben. Jan Hoets Ausstellungsprojekt »Chambres d’amis« in den Wohnungen von 70 Genter Bürgern 1986 stand hier Pate – aber auch etwa der »Theater der Welt«-Parcours »X Wohnungen« in Duisburg 2002. Um nur zwei von zahlreichen künstlerischen Bemühungen zu nennen, die die Trennung zwischen privat und öffentlich im Sinne der Kunst niederzureißen oder zumindest zu verschieben versuchten.
Da gibt es nun das Rentnerehepaar in Fröndenberg, das seinen Fitnessraum gern als temporäres Museum bereitstellen wollte. Die beiden waren in ihrem Leben nie in einem Kunstmuseum, aber die Frau mag so gern Kerzenschein – etwas was eher selten vorkommt in der internationalen Lichtkunst. Dennoch, es kommt vor, Wagner K fand eine Arbeit des algerisch-französischen Künstlers Philippe Parreno, die aus elf mannshohen Kerzen, einer sich rhythmisch öffnenden Jalousie, einsprühendem Duft und einem lämpchenbestückten Baldachin draußen besteht. Diese Arbeit wird ausgeliehen und demnächst einen Teil des Domizils des Ehepaars Meier in ein Gesamtkunstwerk verwandeln. Die Hälfte der 60 Positionen der Biennale nämlich speist sich aus bestehenden Kunstwerken, die einem bestimmten Raum zugeordnet werden; die andere Hälfte wird von Künstlern neu für einen Raum geschaffen. Gut eine Million Euro stehen Wagner K dafür aus Mitteln des Landes und der Kunststiftung sowie der Städte zur Verfügung; die Kulturhauptstadt gibt nur einen geringen Betrag.
Ein Zeitungsaufruf bildete den Anfang: seine Wohnung für die Dauer von zwei Monaten jeden zweiten Tag für ein noch unbekanntes Lichtkunstwerk zur Verfügung zu stellen. Die Resonanz, so Wagner K, sei überraschend positiv gewesen, nicht einmal, als in den folgenden Gesprächen die Dimension des Ganzen – an einem guten Wochenende 300 bis 400 fremde Menschen durchs eigene Wohnzimmer laufen zu sehen – erläutert worden sei. Die Gastgeber der (ersten) Biennale mit dem Titel »Open light in private spaces« stammen aus allen sozialen Schichten und Alterskohorten, sogar eine Achtjährige ist dabei, die unbedingt ihr Kinderzimmer hergeben wollte und nun mit den Kitsch ironisierenden Arbeiten der Schweizer Künstlerin Silvie Fleury belohnt wird, die die vorpubertären Süßigkeiten Michelles in ihrem Mädchenzimmer kontrastieren werden.
Matthias Wagner K, 1961 in Jena geboren und bereits mehrfach als Kurator für Lichtkunst tätig, hegte die Idee der Lichtkunst-Biennale unabhängig von der Kulturhauptstadt, ist aber, wie er betont, froh, dass sie nun unter deren Dach leuchtet, denn das habe die Motivation mancher Privatleute zur Öffnung ihrer Wohnungen befördert. »Irgendwann fanden die Ruhr.2010-Leute dann, das Ganze passe gut in das Kapitel ›Stadt der Möglichkeiten‹«, sagt Wagner K. Die Ironie dabei ist, dass es dieses Kapitel nicht mehr gibt, jetzt firmiert die Lichtkunst-Biennale als Teil von »Metropole gestalten« – die Jonglage mit Begriffen, die hypnosegleich die problematische Wirklichkeit des Ruhrgebiets im Sinne einer Metropolwerdung verändern sollen, ist leider ein Charakteristikum der Ruhr.2010. Wirklich verändern wird diese Lichtkunst-Biennale einige Menschen aber gewiss – die, die Gastgeber sein werden. Und die, die sie mit offenen Sinnen für diese zwittrige Situation Kunst besuchen. »Das wird in die örtliche Erinnerungskultur einfließen«, ist Wagner K sich gewiss. //
www.biennale-lichtkunst.de + www.lichtkunst-unna.de + www.ruhr2010.de.Ab Dezember 2009 versammelt ein neues Internetportal alles über Lichtkunst im Revier: www.licht-ruhr2010.de