kultur.west: Herr Raue, die Kunst ist frei, heißt es im Grundgesetz. Allerdings sind wir heute in so vielem frei – bei der Wahl unserer Religion, unserer Lebenspartner, Wohnorte und Berufe… Warum ist der Artikel 5 Absatz 3 so besonders?
RAUE: Der Satz, die Kunst ist frei, hat schon deshalb so besonderes Gewicht, weil es das einzige Grundrecht ist, das – wie wir Juristen sagen – schrankenlos gewährt wird. Ein Beispiel: Artikel 5 Absatz 1 besagt, dass Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet werden. Aber schon in Absatz 2 heißt es, dass dieses Recht Grenzen an allgemeinen Gesetzen zum Schutze der Jugend und der Ehre findet, während die Kunstfreiheit keine geschriebenen Schranken hat. So ist in der Kunst eigentlich alles erlaubt. Und das bedeutet auch und insbesondere, dass die Kunst von jeglichem staatlichen Eingriff frei bleiben muss.
kultur.west: Es gibt also keinerlei Zensur?
RAUE: Zumindest keine staatliche. Aber wenn ich sage, dass die Kunstfreiheit schrankenlos in der Verfassung gewährt ist, dann heißt das natürlich nicht, dass ich im Namen der Kunst zu Verbrechen aufrufen, die Menschenwürde verletzen oder in die Religionsfreiheit anderer eingreifen darf. Das Bundesverfassungsgericht spricht von sogenannten »immanenten Schranken« der Kunstfreiheit.
kultur.west: Was ist denn stärker: die Kunstfreiheit oder das Recht des anderen, nicht in seiner Würde verletzt zu sein?
RAUE: Das muss von Fall zu Fall geklärt werden – denken Sie zum Beispiel an das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkischen Staatspräsidenten Erdogan…
kultur.west: …das durch eine Klage des TV-Satirikers gerade erst wieder Thema wurde. Sie vertreten in dem Fall Angela Merkel, die ihre Aussage, Böhmermanns Text sei »bewusst verletzend«, nicht wiederholen soll.
RAUE: Ja, es hat mich schon überrascht, dass er jetzt, drei Jahre später, einen Prozess dazu anstrengt. Aber Sie werden verstehen, dass ich mich zu einem laufenden Verfahren nicht äußern mag. Das machen wir vor Gericht.
kultur.west: Das Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Mainz gegen Böhmermann war 2016 eingestellt worden. Eine Karikatur oder Satire sei keine Beleidigung, sofern »die Überzeichnung menschlicher Schwächen keine ernsthafte Herabwürdigung der Person« enthalte, so die Begründung.
RAUE: Ich finde das Böhmermann-Gedicht in weiten Teilen abgeschmackt. Aber ich würde es trotzdem dem Schutz der Kunstfreiheit unterwerfen. Weil für jeden erkennbar ist, dass es in diesem Text nicht um die Wahrheit, sondern um eine Satire geht.
kultur.west: Wie definiert sich eigentlich juristisch Kunst – wenn theoretisch jeder Mensch ein Künstler sein und sich auf die Kunstfreiheit berufen kann? Gibt es so etwas wie Qualitätskriterien oder Merkmale?
RAUE: Das ist eine interessante Frage. Es gibt keine Definition dessen, was Kunst ist. Kunstfreiheit verbietet jede Definition, jede Begrenzung dieses Begriffes. Alles, jede Aktion, jede Demonstration von Meinung kann Kunst sein. Juristisch betrachtet sind weniger die Mittel des künstlerischen Ausdrucks von Bedeutung, als vielmehr der Gestaltungswille, der sichtbar sein muss. Erstaunlicherweise hat man sich in den Prozessen der vergangenen Jahre, die ich begleitet habe, immer schnell darauf geeinigt, dass etwas Kunst war – etwa die Aktionen des Sprayers von Zürich, Harald Naegeli. Diskutiert wurde eher die Frage, ob jemand die Grenzen der Kunstfreiheit überschritten hat oder nicht.
kultur.west: Wie beurteilen Sie, dass bis vor kurzem die Staatsanwaltschaft Gera gegen das Zentrum für politische Schönheit ermittelt hat? Der Künstlergruppe, die zuletzt ein nachgebautes Holocaust-Mahnmal vor dem Wohnhaus des AFD-Politikers Björn Höcke errichtete, wurde vorgeworfen, eine »kriminelle Vereinigung« zu sein.
RAUE: Dass die Staatsanwaltschaft dieses Geschütz gegen eine widerständige, kluge, manchmal grenzwertig handelnde Gruppe aufgefahren hat, ist schwer zu fassen und eigentlich skandalös.
kultur.west: Es gibt in letzter Zeit verstärkt Bewegungen, die sich dafür einsetzen, dass bestimmte Werke nicht länger gezeigt oder gespielt werden. Haben sich die Grenzen des Zeig- und Sagbaren verschoben?
RAUE: Ich finde, schon. Auch ich beobachte eine gefährliche Tendenz zur Zensur einer »community«. Heute ist weniger die Zensur durch den Staat ein Problem, als die Zensur in unseren Köpfen.
kultur.west: Gibt es eine neue Prüderie in der Kunstbeurteilung?
RAUE: Ja, das ist eine ernsthafte Gefahr.
kultur.west: Für wen?
RAUE: Für eine Demokratie wie unsere. Weil es den natürlichen Meinungsaustausch in einer Gesellschaft, die Freiheit der Darstellung, eindämmt. Ich finde, dass solche Tendenzen für eine Schere im Kopf sorgen, die verhindert zu sagen, was gesagt, was getan werden darf.
kultur.west: 2018 hat es Kritik an der Intendantin der Ruhrtriennale gegeben: Stefanie Carp hatte die Band Young Fathers eingeladen, die mit der Organisation BDS alles, was mit Israel zu tun hat, boykottiert. Wo endet Israelkritik und wo beginnt der Antisemitismus – das war die Frage. Carp hatte ihre Einladung immer mit künstlerischer Freiheit begründet. Wie beurteilen Sie den Fall?
RAUE: Zunächst sei einmal gesagt: Jeder Mensch darf israelkritisch sein. Man darf die Politik Netanyahus angreifen, ohne ein Antisemit zu sein. Deshalb gibt es keinen Grund, die Gruppe nicht einzuladen. Ich habe inzwischen aber einige ihrer Aktionen zur Kenntnis genommen, wo ich dann meine, dass es vielleicht doch komplizierter ist. Die Young Fathers sind nicht ganz leicht einzuordnen. Aber grundsätzlich bin ich der Meinung, auch ein Daniel Barenboim darf sagen, dass aus seiner Sicht Israel kein demokratisches Land mehr ist. Und man darf ihn trotzdem für einen wunderbaren Dirigenten und einzigartigen Friedensbotschafter halten.