»Das Potential der Dinge« nannte Tony Cragg seinen Überblick über 20 Schaffensjahre in der Akademie der Künste in Berlin-Tiergarten. Dort faszinierten die Arbeiten vor allem im großen Saal, wo es Ausblicke in die freie Natur gab, so dass das einfallende Tageslicht die Körper umspielte und zu immer neuen Durchblicken und Aufblikken führte. Über die Auswahl der Skulpturen im Lehmbruck Museum hatte der Künstler bei Redaktionsschluss noch nicht entschieden, weil die Raumsituation in Duisburg eine andere ist. Doch eines steht schon jetzt fest: Museumschef Christoph Brockhaus ist ebenso wie die Kunstkritikerin von den Zeichnungen des Bildhauers begeistert. Sie sind die Neuentdeckung – und erleichtern den Zugang zu Craggs plastischem Werk und zu seiner Persönlichkeit.
Tony Cragg, Jahrgang 1949, hat sich den forschenden Charakter seiner Jugend bewahrt. Sein Vater entwarf elektrische Teile für Flugzeuge und glaubte, dass die Wissenschaft der Technologie alle Probleme lösen könne. Zwischen Biochemie und Geologie hat auch der Sohn anfangs seinen Weg gesucht, als Laborant in einem Forschungsinstitut, das Naturgummi auf seine Stabilität hin untersuchte. Tony wollte jedoch nicht über mathematische Berechnungen, sondern über die fünf Sinne sein Werk schaffen. Der weitere Lebensweg bis zur Professur in Düsseldorf, in Berlin und nun wieder in Düsseldorf ist weithin bekannt. Cragg gehört längst zu den wichtigsten Bildhauern der Gegenwart. Was ihn von seinen Kollegen indes unterscheidet, wird in den Zeichnungen deutlich.
Er entwickelt die Dinge, untersucht ihre Ablagerungen, ihre Hüllen, ihre Häute, Innen- und Außenleben. Er beobachtet ständig. Seine Werke basieren auf Erfahrungen beim Arbeiten. Kreisend um Fragen nach dem Verhältnis von Gegenstand und Mensch, Objekt und Leben. Welche Kraft wohnt in der Materie? Wie kann sie nach innen und außen dringen? Welche Lebenslinien verbinden Mensch und Objekt, Natur und Stadt? Wie enthüllt sich die Natur, wie die Materie? Welches Vexierspiel ergibt sich, wenn Innenräume im Körper gefüllt werden? Wie verhalten sich Gewicht, Volumen und Leere zueinander? Derlei Überlegungen führen bei Cragg nicht zu theoretischen Abhandlungen, sondern schließlich zu energetisch aufgeladenen Skulpturen. Das bloß Statische ist seine Sache nicht: »Vom Material muss man sich auf eine Reise mitnehmen lassen«, sagt er.
Craggs Sicht auf die Welt sei eine materialistische, behauptet Jon Wood in einem Interview, das wie ein Lesebuch die Ausstellung begleitet. Dieser These, der auch Cragg selbst in Äußerungen gern huldigt, glaubt man so lange, bis man die Zeichnungen gesehen hat. Sie zeigen die Dinge in ihrem Verlauf, ihrer Bewegung, ihren diversen Richtungen. Die Konturen erscheinen als wirbelnde Spiralen, die ruhenden Objekte als Träger der Evolution. Die Zeichnungen holen Gesichter, Silhouetten, menschliche Regungen aufs Papier, als pure Kraftlinien und Symbol des Immateriellen.
Wer unter diesem Blickwinkel die Skulpturen betrachtet, sieht in ihnen gleichfalls das Prozesshafte, versteht sie als rotierende Scheiben, die diskusartig durch den Raum wirbeln, gehalten an wirbelsäulenartigen Achsen. »I’m alive« nennt er eine Arbeit aus Karbon von 2000, die in einem großen Bogen und doch zugleich schlangenhaft durch die zweite Halle in Berlin zog, sich stemmend und stützend wie ein kolossales Wesen. Wer seine Gebilde durchschaut, indem er durch die Öffnungen sieht, vergisst deren Material und Gewicht. Alles scheint zu verschwinden. Man entdeckt Figuren, die abstrakt und zugleich Sinnbilder eines élan vital sind. Zuweilen nimmt Cragg simple Alltagsgegenstände wie einen Belüftungskanal, den er unendlich oft perforiert, so dass die Bronzehaut zur durchlässigen Membran wird.
Aus seinen gestischen Zeichnungen können »Rational Beings« werden, mit einem Kern aus Styropor und einem Grafitfasermantel. Eine Zeichnung müsse man lediglich zur dritten Dimension »ausfüllen«, heißt es im Katalog. Cragg stülpt Ringe aus Styropor übereinander, bevor er sie verklebt. Die Haut, die er wählt, hat in der Regel die Spannung einer sehr sensiblen, das Licht reflektierenden Oberfläche.
Sein Ziel sei es, ein Material zu nehmen und »darauf Sinn, Leben und menschliche Bedeutung zu übertragen«. Nicht auf spiritistische Weise, sondern in einem klaren, exakt berechneten Verhältnis zwischen Materie und menschlichem Maß, Bewegungen, Richtungen, Strömungen. In Berlin saugten die Objekte den Raum ein und stießen ihn zugleich aus. Kolossal leicht. Die Interaktion von Kunstwerk und Betrachter wirkt wie ein Spiel, das Überraschungen bereit hält. Die Skulpturen sind keine minimalistischen Blechkästen, keine Ready mades und keine Parodien industrieller Erzeugnisse, von denen Cragg wenig hält. Auch keine Abbilder bereits existierender Objekte. Vielmehr Teile seiner selbst, die er in die Zukunft projizieren möchte, wie ein Vater es mit seiner Nachkommenschaft tut. Er sieht in ihnen Instrumente, »um eine bessere Welt zu schaffen«.
Cragg, ein Materialist mit Leidenschaft, Schöpfer mit wissenschaftlicher Methode, Entdecker der physikalischen Welt, hat eine kindliche Neugier, mit der er die Dinge zerlegt oder mit ihnen spielt, um auf neue Bilder, Formen und Konturen zu stoßen und Energien zu entwickeln. Die »nicht lebenden Bestandteile« sind ihm wichtig, weil er ihnen Leben einhaucht, durch Struktur und Gestalt. Das Ergebnis hat etwas Irrationales. Man kommt nie ganz dahinter, das eben ist das Besonders dieser erdachten Wesen. Als Cragg zur Olympiade in Turin tonnenschwere Skulpturen in Doppel-Sattelschleppern aus der Gießerei Schmäke in Düsseldorf abtransportieren ließ, war es ein merkwürdiges Bild: Der Kran hob enorme Gewichte, gleichwohl luftige Gebilde gen Himmel. Irgendwie eine Mischung aus Methode und Wahnsinn.
Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg; Tony Cragg – Das Potential der Dinge. Skulpturen, Zeichnungen und Druckgrafiken. Modifizierte Übernahme der Ausstellung der Akademie der Künste, Berlin. 25. Februar bis 15. April; zur Ausstellung erscheint ein Künstlerbuch, »In and out of Material« mit Texten von Christoph Brockhaus, Tony Cragg u.a., Verlag Walther König, Köln, 288 S., 34 Euro. Tel.: 0203/283-2630; www.lehmbruckmuseum.de