Sie machen es sich nicht leicht. Die Organisator*innen der Wuppertaler Literaturbiennale, die seit 2012 nationale und internationale Autor*innen und die regionale Literaturszene versammelt. Denn jedes Mal umkreisen sie ein Thema in ihrem Programm. Zuletzt war es um »Utopie Heimat« gegangen, dann um das Verhältnis zwischen Tier, Mensch und Maschine und um Identität. Diesmal handeln die Geschichten und Diskurse »Vom Verschwinden«. Doch wie erzählt man von etwas, was es bald nicht mehr gibt? Oder vielleicht noch nie gab?
Fest steht, dass Michael Köhlmeier die Biennale am 3. Mai im Kulturzentrum Immanuel mit einer Lesung aus seinem Roman »Das Philosophenschiff« eröffnet. Was zunächst vielleicht nach einem unweigerlich kenternden Boot klingt, waren Gefährte, mit denen die neue bolschewistische Sowjetunion unter Lenin 1922 missliebige Intellektuelle außer Landes bringen ließ. Ein solches dümpelt in Köhlmeiers Roman auf offener See vor sich hin, bis schließlich Lenin höchstselbst an Bord geht – und auf kuriose Weise wieder verschwindet. Auf dem »Philosophenschiff« vermischen sich so historische Fakten mit Fiktion, historische Figuren tauchen auf, sogar der Autor selbst. Was verschwindet – vielleicht am Ende der Bezug zur Realität?
Das ist eine Frage, die sich unter dem diesjährigen Leitthema wunderbar diskutieren lässt. Julia Wessel, eine der Kurator*innen, betont vor allem, was sich unter dem Motto in Sachen Politik und Literatur alles vereinen lässt: »Das Thema hat uns am Ende überzeugt, weil es genau diesen Spagat leistet: Es ist literarisch und poetisch, aber auch eines, mit dem man die wichtigen Debatten unserer Zeit besprechen kann – häufig sogar beides gleichzeitig.« So soll es auch um das Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten, Traditionen und Ressourcen gehen. Und manches an die großen Themen der vergangenen Jahre anknüpfen. Die Wuppertaler Biennale will zeigen, wie Literatur Perspektiven aufzeigen und Gegenwärtigkeit verbildlichen kann, ohne sich für politische Interessen einspannen zu lassen. Julia Wessel: »Die Literatur war schon immer ein Medium, das aktuelle, auch politische Phänomene sehr gut abstrahieren oder durch das Verpacken in Geschichten zugänglich machen kann. Wenn unsere Lebensrealitäten so politisch aufgeladen sind wie im Moment, zeigt sich das natürlich auch in den Themen aktueller Texte.«
»Gerade in unseren Zeiten kann Literatur dabei helfen, Geschehnisse besser zu verstehen oder die Perspektive zu wechseln.«
Julia Wessel, Kuratorin der Wuppertaler Literaturbiennale
Auch in diesem Jahr werden die Lesungen und literarischen Veranstaltungen von Diskussionsabenden begleitet. Die Schriftstellerin Asal Dardan wird am 9. Mai mit Mirjam Zadoff, Historikerin und Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München und Ibou Diop, Literaturwissenschaftler und Kurator, über das »Verschwinden von Erinnerung« sprechen. Dabei geht es nicht nur um die Aufarbeitung von deutscher Geschichte in der Vergangenheit, sondern auch, wie wir heute mit Kolonialgut umgehen. Ibou Diop hat maßgeblich Berlins »Erinnerungskonzept Kolonialismus« miterarbeitet und spricht sich für eine kritische Gesellschaft aus, die bereit ist, zuzuhören und verschiedene Perspektiven anzuerkennen. Dabei geht es nicht nur um eine Restitution von Artefakten, sondern auch um eine Schuldanerkennung von politischer Gewalt.
Der Schriftsteller Halim Youssef zeigt, dass großartige Literatur aus dem Verschwinden von Heimat erwachsen kann. Er wurde in der kurdischen Stadt Amude in Syrien geboren und lebt seit 2000 in Deutschland. In seinem Buch »99 zerstreute Perlen« schildert er Verluste: Wie der Autor selbst muss auch sein Protagonist Azado nach Deutschland fliehen. Für Youssef ist Literatur eine Rückkehr zu seinen Wurzeln, er schreibt auf Kurdisch – der Sprache, die in seinem Heimatland verboten ist und die ihm als Kind ausgetrieben wurde. Weder in der Schule noch im öffentlichen Raum war Kurdisch erwünscht. Manchmal kann das Verschwinden also auch etwas Verlorengegangenes wiederbringen: In Youssefs Fall die eigene Sprache.
Halim Youssef ist einer von acht Autor*innen, die die Vielfalt der Wuppertaler Literaturszene auf die Bühne bringen. Mitveranstalter Torsten Krug war es wichtig, regionale Schrifsteller*innen einzuladen: »Wir haben durch einen Open Call versucht, dabei auch unbekanntere Initiativen und Projekte zu erreichen.« Auch Hung-Min Krämer stammt eigentlich aus Tübingen, lebt aber nun in Wuppertal und hat jüngst ihren ersten Gedichtband beim Nettetaler Elif-Verlag von Dinçer Güçyeter veröffentlicht. Das Verschwinden spielt auch in ihren Gedichten eine Rolle. »Alles außer Haiku« versammelt kleine, humorvolle Kurzgedichte, die zufälligerweise alle Regeln des Haikus erfüllen oder auch längere Lyrik, die vom Verschwinden innerer Dämone handelt.
Von einer anderen Art des Verschwindens erzählt Johanna Sebauer, die die herrlich-störrischen Bewohner*innen einer österreichischen Ortschaft beschreibt und am 11. Mai aus »Nincshof« in der Bandfabrik liest. Hinzu kommt der Schriftsteller Jan Kuhlbrodt, bei dem der Schwund seiner Jugend auch mit dem Schwund seiner Muskeln einhergeht. In seinem autofiktionalen Roman »Krüppelpassion« schreibt der Alfred-Döblin-Preisträger bewegend über sein Leben mit Multipler Sklerose und wie sie ihn immer weiter beeinträchtigt. Dabei ist seine Prosa keineswegs selbstmitleidig oder anklagend. Mithilfe von Literatur stemmt er sich gegen schwindende gesellschaftliche Teilhabe und schwindende Möglichkeiten. Und eröffnet dabei eine Gegenwelt von Literatur: Er findet die ewige Jugend bei Kierkegaard, sammelt Gedanken zur Hässlichkeit bei Nietzsche und Sokrates bis hin zu Überlegungen von Antonio Gramsci.
Mit einem Literatur- und zwei Förderpreisen werden auch diesmal junge, regionale Autor*innen ausgezeichnet: Orhan Erdem bekommt den Hauptpreis für seine Erzählung »Ein unser Dorf«. Die beiden Förderpreise gehen an Lili Aschoff für »Ein Dachboden voller Genies« und Maria Marggraf für »Invasive Arten«.
Auch wenn das Thema also »Vom Verschwinden« heißt – in Wuppertal entsteht in Sachen Literatur eine ganze Menge.
Wuppertaler Literaturbiennale
3. bis 11. Mai
an verschiedenen Orten in Wuppertal