kultur.west: Herr Kröck, was zeichnet den Neuen Zirkus auch im Vergleich zu anderen theatralen Formen wie dem Tanztheater oder dem Schauspiel aus?
OLAF KRÖCK: Der Neue Zirkus ist für unsere Breitengrade tatsächlich eine neue Kunstform. Das gilt nicht weltweit. In Frankreich und in den angelsächsischen Staaten ist er schon seit etwa zwei Dekaden etabliert. Dort gehört er zum festen Bestandteil der großen internationalen (Kunst-)Festivals. In Deutschland wird er dagegen gerade erst so richtig entdeckt.
kultur.west: Woran liegt das?
OLAF KRÖCK: Das hat in meinen Augen etwas mit der immer noch bestehenden Trennung zwischen »E« und »U«, zwischen richtiger Kunst und Unterhaltung, die womöglich sogar schlechte Kunst ist, zu tun. In Frankreich und Großbritannien, in Kanada und Australien, wo sich stilbildende Gruppen gebildet haben, gibt es diese Unterscheidung in dem Maße nicht. So konnte sich in diesen Ländern eine Kunstform entwickeln, die ganz viele Momente triggert. Das hat natürlich auch etwas mit dem ökonomischen System zu tun. In Großbritannien, Kanada und Australien gibt es keine Subventionssysteme. Dort müssen die Künstler richtig Geld verdienen. Dadurch wird eine Breitenwirksamkeit ihrer Arbeit zwingend. Zugleich trauen sie sich aber, neben artistischen, überraschenden und überwältigenden Momenten auch Inhaltliches-Künstlerisches in ihre Arbeiten zu integrieren. Der Neue Zirkus bietet eben kein klassisches varietéhaftes Programm.
kultur.west: Wie kam es dazu, dass Sie für den Neuen Zirkus gleich ein neues Segment im Festivalprogramm eingerichtet haben?
OLAF KRÖCK: Die Ruhrfestspiele haben in ihrer langen Geschichte einen vielleicht einzigartigen Spagat vollbracht. Auf der einen Seite sind sie breitenwirksam, auf der anderen ein Kunstfestival. Beides zu sein, war immer die Aufgabe der Ruhrfestspiele. Und dieser neuen Kunstform gelingt dieser Spagat auch. Das sind höchst kunstfertige Arbeiten. Wenn ich beispielsweise an »Smashed« von Gandini Juggling denke, das ist eine Hommage an Pina Bausch, aber zugleich ist es ein Jonglage-Abend, der weltweit unheimlich erfolgreich getourt ist. Trotzdem ist es ein Kunstwerk, eine großangelegte Choreografie. Der Neue Zirkus ist eine ganz spezielle Form, die etwas zusammenbringt, was andere Formen sich oft nur wünschen, zusammenzubringen.
kultur.west: Warum gelingt das dem Neuen Zirkus eher als dem Tanztheater oder dem Schauspiel?
OLAF KRÖCK: Eine große Rolle spielt dabei sicher die Akrobatik. In ihr steckt zum einen eine spontan beeindruckende Körperlichkeit und zum anderen etwas Choreografisches. Jede Regiearbeit im Neuen Zirkus ist immer auch eine Choreografie. Dadurch ist diese Form dem Tanz nahe. Aber sie wirkt oft noch direkter. Die Choreografien des Neuen Zirkus überwältigen und begeistern einen, weil man sofort sieht, dass die Performer*innen Dinge beherrschen, die man selbst nicht kann. Aber es bleibt nicht allein bei dieser Überwältigung. Die Arbeiten werden immer auch von einer Art Erzählung, einer Narration, getragen. Man erkennt Geschichten, und die binden einen auch über die physischen Attraktionen hinaus an das Geschehen auf der Bühne.
kultur.west: Wie hat das Publikum die Aufführungen des Neuen Zirkus’ im vergangenen Jahr angenommen?
OLAF KRÖCK: Sehr gut. Es hat sich gezeigt, dass der Neue Zirkus eine Gruppe von Menschen anspricht, die großes Interesse an Kultur haben, die dabei etwas Neues erleben wollen und die zugleich auch hohe Qualität erwarten. Genau dafür stehen Gruppen wie Gandini Juggling oder Circa Contemporay Circus, eine australische Gruppe, die in diesem Genre weltweit stilbildend gewirkt hat und deren neueste von Strawinskys »Le Sacre du printemps« ausgehende Arbeit »Sacre« bei den Ruhrfestspielen ihre Weltpremiere erleben wird.
kultur.west: Das klingt durchaus experimentell.
OLAF KRÖCK: Der Neue Zirkus will, dass man sich anspruchsvoll einlässt. Zugleich verzichtet er aber auf hohe Hürden. Da stehen vier Menschen übereinander und lassen sich dann nach vorne fallen. Da halten Sie als Zuschauer selbstverständlich die Luft an, unabhängig davon, ob Sie darüber nachdenken, was das bedeuten soll. Auch das gehört zu einem unvergesslichen Theatererlebnis.
kultur.west: Die Bühne ist also der ideale Ort für den Neuen Zirkus?
OLAF KRÖCK: Ich teile die Haltung von Thomas Oberender, der sagt, dass der Neue Zirkus die Tendenz haben muss, auf eine Theaterbühne zu wollen, um dort wie Theater zu wirken. Genau das wollen viele Arbeiten in diesem Genre. Nur kommen bisher die wenigsten davon aus Deutschland. Die meisten von ihnen entstehen im Ausland.
kultur.west: Können die Ruhrfestspiele daran etwas ändern?
OLAF KRÖCK: Das Festival hat das Potential weiterhin die Crème de la Crème des Neuen Zirkus’ zu präsentieren. So kann es zu einem Begegnungsort werden, der neue Impulse auch für die deutsche Szene liefert.
Auch im diesjährigen Programm der Ruhrfestspiele 2021 ist Neuer Zirkus vertreten. Mehr Infos gibt es hier.