TEXT: RAOUL MÖRCHEN
Wenn der Vorhang aufgeht, in Wedekinds Drama »Musik«, sind die Würfel schon gefallen: Der Gesangsprofessor hat seine Studentin geschwängert, die hat abgetrieben – ein Verstoß erst gegen die Moral, dann gegen das Gesetz. Was daraus folgt, ist klar, anno 1906: Der Professor kommt davon, die Studentin nicht.
Was aber folgt daraus, wenn drei Autoren diese Geschichte gemeinsam noch einmal erzählen, anno 2013? Eine Coming-of-Age-Story, verrät Helene Hegemann: »Wo früher das Strafrecht drohte, steht heute die Depression. Die Studentin Klara lernt, die Mechanismen der Boshaftigkeit zu verstehen. Erst verzweifelt sie daran, am Ende aber ist sie abgebrühter als alle anderen.« Wo die Würfel einst gefallen waren, kommen sie bei Hegemann jetzt erst ins Rollen. Die Idee dazu hatte Janine Ortiz. Im Autoren-Trio der Oper »Musik«, die derzeit im Palladium, einer Interimsspielstätte der Oper Köln, geprobt wird, ist die Dramaturgin mit ihren 32 Jahren schon die älteste. Komponist Michael Langemann ist Jahrgang 1983, Helene Hegemann überspringt gerade mal die 20. »Uns interessiert, wie alles angefangen hat: Wie haben die beiden sich kennengelernt? Wie kam es überhaupt zur Schwangerschaft? Wie haben Studentin, Professor und dessen Frau zu dritt unter einem Dach leben können?«
Keine Frage, in der Kölner Wedekind-Revision – eine Produktion des Fonds Experimentelles Musiktheater von NRW KULTURsekretariat und Kunststiftung NRW – soll eine Geschichte erzählt werden, ein Plot. Da wird nicht innerlich lamentiert und reflektiert, da wird offen gespielt, gesungen, gehandelt. Das liegt nicht zuletzt an Michael Langemann. Mit Narration und Action hat er kein Problem. Ganz im Gegenteil: Er freut sich drüber, dass er mit seiner Musik auf einen Text zugreifen kann, der erlaubt, alle Register zu ziehen. »Individualstil ist was für Idioten«, zitiert Langemann seinen Kollegen Luciano Berio und präsentiert eine Partitur, die quer durch Genres und Zeiten springt: Wenn sich Studentin Klara auf eine Wagner-Rolle vorbereitet, dann wird man das hören können, verspricht Langemann, und man wird auch hören können, wie Ortiz und Hegemann diese Klara im hier und jetzt verorten: als ein Kind des Pop, als Teenie-Star, den Kopf voller Träume und Flausen. »Es gibt keine Zitate, keine Songs im Original. Aber viele Anspielungen, zum Beispiel ein R’n’B-Rezitativ.«
Dass Langemann als Komponist so genau auf die Bewegungen des Textes eingeht, ist ein Geschenk mit Gegenleistung. Denn wie sich der Text bewegt, das hat auch etwas mit der Musik zu tun. Für Hegemann, Ortiz und Langemann ist »Musik« tatsächlich ein Gemeinschaftswerk. Es entsteht und verändert sich noch jetzt, während der Proben, erklärt Janine Ortiz. »Wir haben das Glück, dass Helene unglaublich schnell schreiben kann. So gab und gibt es immer genug Material, um aus der oft komplexen, verschachtelten Sprache etwas herauszufiltern, was prägnant genug für Arien und Duette ist.« Und was nicht dafür taugt, aber doch hin sollte ins Drama, das wird gesprochen – oder verarbeitet in einer Zwischenebene, die hier »Underscore-Szenen« heißen und in früheren Zeiten auf den Namen »Melodram« hörten: Sprache bettet sich auf Klang.
Für Ortiz und Langemann ist »Musik« schon die zweite Oper. Im Sommer zeigten sie in Bielefeld den Einakter »Orlando« nach Virginia Woolf. Helene Hegemann dagegen begibt sich erstmals ins Musiktheater – in ein Genre, das ihr bisher fremd blieb, weil dort Menschen singen, die eigentlich reden müssten. Auch Wedekinds Drama sprang sie nicht an. »Bis Janine kam und sagte: Das ist doch genau das, was du immer gewollt hast. Wedekind liefert den Grund, warum die Leute singen.«
Auff.: 7. (UA), 11., 14., 19., 22. Dezember 2013, Oper Köln im Palladium. www.operkoeln.com + www.nrw-kultur.de/fexm