TEXT: ANDREJ KLAHN
Freude am Tag danach: der fünfzackige Stern, der über dem Eingang des Schauspielhauses Dortmund hell in die Dunkelheit leuchtet, ist rot übermalt worden. Dass sich in der Nacht doch noch mal einer hinreißen lässt. Damit konnte ja nun wirklich keiner rechnen. Ist das nicht verboten?
Am Abend zuvor: inszenierte Protestrevue, ironisch. Das »Economy Death Match« eröffnet die Reihe »Stadt ohne Geld«, mit der das Schauspiel die katastrophale Haushaltslage Dortmunds zum Theaterthema macht, unter Gesamtregie von sputnic und kainkollektiv. Ausblick auf die vielleicht nicht mehr fernen Zeiten, in denen Kunst nach schlechter kommunaler Kassenlage gemacht werden muss: »Aus Ideen werden Märkte« steht auf der Rückwand der robust zusammengenagelten Bühne, von der – Achtung: Satire – im Verlauf des Abends die Buchstaben einzeln abfallen.
Hendrik Feldkamp vom »Institut für urbane Krisenintervention« (IfuK) ist gekommen, um ein paar bunte Sprechblasen aufsteigen zu lassen, bevor das dreckige Match-Finale, eine Schlammschlacht zwischen personifizierter Kunst und Wirtschaft, beginnt. Der (werte-)schöpferische Mensch stecke voller Möglichkeiten, lässt Feldkamp wissen. Er sei die einzige unerschöpfliche Ressource der Welt. Das Theater müsse zum multimedialen Kommunikationszentrum werden, in dem Unternehmer Ideen austauschen. So sieht das kreativwirtschaftliche Facelifting aus, um die in die Jahre gekommene Thalia für die Zukunft fit zu machen.
Leider agiert Feldkamp dabei nicht wie ein schlecht schauspielernder Unternehmensberater, sondern wie ein Schauspieler, der einen Unternehmensberater mimt. Derweil ein Kollege über der Szenerie schaukelt, »Fick Dich, Welt!« brüllt und das Publikum mit Beuys auffordert, seine Wunden zu zeigen. Klingt nach Christoph Schlingensief, ist aber ganz anders verzweifelt. Denn wenn am Ende dieses mild zynischen Abends eine Erkenntnis steht, dann die: Das Theater wähnt sich offensichtlich derart marginalisiert, dass es den Protest gegen die Selbstabschaffungsrealityshow lieber gleich mitinszeniert.
Nicht auszudenken was passieren würde, wenn das Schauspiel Dortmund seine feindliche Übernahme durch die Kreativwirtschaft durchspielte und sich keiner daran störte. Damit das nicht so ist, sitzen im Premieren-Publikum ausnahmsweise einmal mehr zwischenrufende Provokateure als applaudierende Claqueure. Zur rechten Zeit marschiert mit Fahnen und Pfeifen auch noch eine subkulturelle Abordnung auf, um sichtlich stolz gegen die marktliberale Vernutzung von Kunst und Kultur zu demonstrieren. So ziehen die Regiekollektive sputnic und kainkollektiv der »Stadt ohne Geld« ein inszenatorisches Sicherheitsnetz ein. Hätten sie darauf verzichtet, wäre das Projekt vermutlich wirklich aufregend geworden. Begonnen hatte es mit sommerlichen Irritationen, allerdings nicht auf der Bühne. In sozialen Netzwerken und durch Leser-Kommentare auf DerWesten forderten die Mitarbeiter des IfuK Relevanznachweise für das Theater ein. Wer wissen wollte, wer oder was das IfuK sonst noch macht, konnte auf der Homepage des Instituts ein paar verschattete Gesichter und ungebügelte Hemdkragen sehen; und lesen, dass man sich der »theoretischen Erforschung und der praktischen Umsetzung und Förderung kreativwirtschaftlicher Prozesse als Beitrag zur Lösung struktureller gesellschaftlicher Problemlagen wie Armut, Arbeitslosigkeit, urbanem Verfall und der Verödung des kulturellen Lebens und der ökonomischen Zentren in unseren Städten« widme. Dabei greife das IfuK auf die »gesamte Bandbreite von Methoden der empirischen Sozialforschung, des Kulturmanagements und der Sozialpsychologie« zurück. Das klingt zu kreativökonomisch, um es einfach nur für Unsinn zu halten. Da im Ruhr.2010-Jahr die Grenzen zwischen Kulturwandelprosa und Creative-Science-Fiction ohnehin sehr durchlässig sind, wollte man in den lokalen Redaktionen an die Existenz des angeblich 2006 gegründeten Instituts gern glauben und berichtete über den Dissens zwischen Schauspiel-Intendanz und IfuK.
Für einen kurzen Moment ließ sich die Realität im Spiegel ihrer Inszenierung erkennen. Den haben kainkollektiv und sputnic nun wieder abgehängt. Was bis Februar 2011 im Rahmen der Reihe folgt, ist nicht einfach nur Theater: neben Inszenierungen stehen auch Diskussionen und Vorträge zum Thema auf dem Programm. Die Diskussion über die »Stadt ohne Geld« sollte unbedingt im Schauspielhaus weitergeführt werden. Man muss sie ja nicht gleich auf die Bühne bringen.
EINMAL IST NICHT GENUG
Eiszeit: Georg Büchners »Woyzeck«
Es ist doch eine ganz einfache Geschichte, die Georg Büchner in Fragmenten hinterlassen hat: Sein Franz Woyzeck, der arm’ Mann, wird kujoniert, betrogen, gedemütigt, wird angesichts äußerer Umstände und innerer Pein ganz »hirnwütig« und bringt schließlich Marie, die Mutter des gemeinsamen Kindchens, um. Im Schauspiel Dortmund, wo also ebenfalls der Frühling einer neuen Intendanz beginnt, ist die Eiszeit ausgebrochen. Auf die von schwarzen Vorhängen wie in einer Einsegnungshalle abgehängte Bühne (Pia Maria Mackert) fiel Schnee. Woyzeck – eine Winterreise, während der »das gefrorene Meer in uns« (Franz Kafka) nicht taut.
Im Hintergrund sitzt ein wie Liberace gekleideter Sänger am Flügel. Woyzeck – bei Axel Holst eine Art (ebenfalls: Franz) Biberkopf in seinem physischen Drang und Drängen – will sich seine wirren Gedanken aus dem Kopf schlagen. Doch sie lassen sich nicht vertreiben. Auf dem kalten Grund schuftet er sich ab, stemmt sich unterm Eisernen Vorhang hervor, scheint von Stimmen (auch aus dem Lautssprecher) umstellt und umspült von Tanzmusik und hartem Punkrock, der ihn mit der Frage »Why don’t you like me« zuhämmert. Sechs Personen fuhrwerken recht angespannt durch die 90 Minuten, angetrieben von Untergangseuphorie und Katastrophen-ekstase. Vom Doktor kriegt Woyzeck was auf die Finger; der Hauptmann in seiner suizidalen Unlust delegiert an ihn den eigenen Selbsthass; der Tambourmajor, ein kraftprotzender Schreihals mit Ballettausbildung, haut in ihm den Lukas; und Marie, diese andere Magdalena, der Caroline Hanke Zartheit trotz biblischer Fallhöhe gibt, träumt unter Glitzerkugeln vom Schönen und trägt dazu symbolisch Rot.
Wie gesagt, es ist eine einfache Geschichte, die der Intendanten-Regisseur Kay Voges mit Energie geradezu aufpumpt und so etwas marktschreierisch offeriert. Da ist einmal nie genug. Jede Szene, schon für sich genommen und von ihrem dichterischen Urgrund her ein Sprengsatz und Fanal, muss durch Wiederholungen postuliert, rabiat ausagiert und ausgestellt werden – bis zum bitteren Finale: einer als grotesk splatternder Hyperrealismus dargebotenen Tötungsprozedur samt Auferstehungs- und Rache-Fantasie der Frau an den Männer-Unholden. Dann donnert wieder die Stille.
www.theaterdo.de + www.ifuk.org