TEXT: ANDREAS WILINK
Elias Canettis Großstudie »Masse und Macht« widmet ein Kapitel den Massensymbolen der Nationen. Für den Deutschen hat Canetti den Wald ausgemacht: »Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen«. Es ist dieses romantische Naturverständnis, das auch Hans Weingartner auf seinen Antihelden Martin Blunt überträgt. Der genialische, ständig Zahlen repetierende Mathematiker ist an einer Psychose erkrankt: für Weingartner eine von außen verhängte Zivilisationskrankheit. Sie lässt sich am besten kurieren, wenn der Betroffene aus der betonierten, anonymen, sozial unverträglichen, ihn überfordernden, verständnislos agierenden Stadt in den Wald emigriert. Der Grüngürtel von Berlin oder ein Hippie-Tal in Portugal, eben so weit die Füßen tragen. Man kann die Geschichte, der fast jede Helligkeit entzogen scheint, kaum anders als mit ironischer Rührung betrachten.
Weingartner hat in »Das weiße Rauschen«, »Die fetten Jahre sind vorbei« und »Free Rainer« jeweils den Ausstieg, den utopischen Mehrwert propagiert und in idealistisch-naivem Überschwang das Realistische aus dem Blick verloren, wobei seine Welt doch auf eine Weise konkret sein will, dass wir sie ernst nehmen sollen. Das fällt auch in »Die Summe meiner einzelnen Teile« schwer, so sympathisch – und großartig von Peter Schneider verkörpert – dieser Martin ist und so bedenkenswert sein Widerstand gegen das »System« von Psychiatrie, Polizei, Arbeitsalltag und Normierung.
Am Anfang springt Martin nackt im Wald umher, bevor er abgeführt, in die Psychiatrie verbracht, behandelt und medikamentös eingestellt wird. Nach seiner Entlassung aus dem Klinikum fällt er erneut schnell aus dem sozialen Netz, wird von einem fiesen Akademiker mit dem Auto angefahren, greift wieder zur Flasche und verwahrlost. Bis ihn die zehnjährige ukrainische Waise Viktor (Timur Massold) aufstöbert und ihm Halt gibt. Aber Viktor ist nur ein Phantom – eine Abspaltung Martins und Projektion eigenen Kindseins. Zusammen mit dem Jungen baut er sich eine Hütte, und sie leben autonom und ein bisschen wie Tarzan oder Robinson. Am Ende, nachdem Martin sogar ein sanftes Mädchen kennen lernte und einen Traum träumte, liegt er gefesselt im Krankenbett. Nur noch seine Gedanken sind frei.
»Die Summe meiner einzelnen Teile«; Regie: Hans Weingartner; Darsteller: Peter Schneider, Timur Massold, Henrike von Kuick, Andreas Leupold, Julia Jentsch, Eleonore Weisgerber, Thomas Dannemann; Deutschland 2011; 120 Min.; Start: 2. Feb. 2012.