Die Wahrheit der Kunst ist eine ganz eigene. Weil sie dem sonst Ungesehenen, Ungesagten, Ungestalteten eine Form gibt und weil diese Form auf keine andere Ausdrucksmöglichkeit umzurechnen ist, deshalb sind Kunstwerke unmittelbar wahr. Auch wenn außer Zweifel steht, dass sie fiktional, also erfunden sind.
Ein etwas anderer Fall herrscht, wenn Kunst es sich zur Aufgabe macht, mit ihren eigenen Mitteln die eigenen Mittel zu reflektieren, also zu zeigen, dass sie hergestellt ist. Duchamp hat ein Urinoir ins Museum gestellt; Thomas Ruff hat in seiner Eigenschaft als Künstler Fotografien anderer »angenommen« (siehe Seite 6 in diesem Heft). Hier wechselt uns die Kunst die Brille aus, und schon wird aus dem einen etwas anderes, viel Reicheres. Eine dritte Situation liegt vor, wenn ein Kunstwerk narrativ ist und zugleich fragt: Erzähle ich wahr? Und damit explizit auf Bereiche außerhalb der Kunst verweist, in denen wahr/falsch eine Rolle spielt. Womit wir konkret werden und in der »Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst« in Münster angelangt sind, wo es heißt: »Lügen. nirgends«. Das spielt auf den Roman »Kein Ort. Nirgends« von Christa Wolf an, in dem eine Biografie von Kleist und der Günderode erzählt wird, die wahrer klingt als die wahre. Was aber ist eine wahre Biografie? Kann sie doch nicht einfach abschreiben vom Leben, muss sie doch zwangsläufig selbst erzählen, also Ordnung herstellen, wo Leben Diskontinuität und Kontingenz bedeutet.
Das Problem ist unlösbar, aber auf dem Boden, den es nicht gibt, lässt sich sogar ein Häuschen bauen. Es steht im 5. Stock des ehemaligen Getreidespeichers, in dem die Ausstellungshalle seit 2004 ihren Ort hat, links an der Wand. Es hat die Größe einer kleinen Berghütte, komplett mit Fenster- und Giebelverzierung in frischem Blau und Minigaube, drinnen zwei winzige Räumchen, davor eine Bank. Und eine Berghütte ist es auch – vielmehr, es ist keine, sondern die Rauminstallation »Held-Saga – Die Berghütte im Wald« und 2005 von dem Künstler Hans Winkler erbaut. Setzt man sich auf die Bank, schaut man auf eine Projektion an der Wand, die einen schönen Ausblick über eine Alpenlandschaft bietet. Angeblich ist es das Salzburger Land, mit Blick vom Gaisberg bei Aigen. Das erfährt man aus dem Büchlein, das an der Bank angekettet ist, denn dieses Büchlein ist eine Biografie: die von Franz Held. Die Biografie oder die »Saga«? Immerhin, Held war ein 1862 in Düsseldorf geborener Schriftsteller und hieß eigentlich Herzfeld. Ein frei denkender Mensch, der, um einer Bestrafung wegen Gotteslästerung zu entgehen, 1895 nach Österreich floh, gemeinsam mit Frau und Kindern. Dort baute die Familie sich eine Berghütte, eben am Gaisberg bei Aigen. Behauptet das Büchlein. Und erzählt weiter, dass Held-Herzfeld und seine Frau Alice, die eine noch viel phantastischere Biografie aufweist (sie wird im Buch beschrieben), 1899 einfach verschwunden seien, unter Zurücklassung der Kinder. Viel spricht dafür, dass es vier waren – unmöglich, zu sechst in dieser Hütte zu leben. Aber diese Hütte ist offensichtlich auch gar nicht jene Hütte, dafür ist sie viel zu neu. Sie ist, sagt das Büchlein, ein Nachbau der Hütte, die John Heartfield Ende der 50er Jahre in Waldsieversdorf bei Berlin für seine Kinder baute. Der berühmte John Heartfield, der Erfinder der politischen Collage, aber hieß, wie bekannt, eigentlich Helmut Herzfeld und war – nun, eines der Kinder, die 1899 in jener Hütte sich selbst überlassen wurden. Stimmt das jetzt nun alles? Heartfields überall nachzulesende Biografie legt dies nahe, und ist die Hütte nicht sozusagen der Beweis? Schließlich ist sie wirklich, sozusagen unmittelbar wahr. Wenn sie es aber nicht ist, nicht einmal als Nachbau, wofür vieles spricht, ist dann die ganze Geschichte falsch?
Verglichen mit der Vielschichtigkeit von »Held-Saga«, womit Winkler nicht nur dem vergessenen Held, sondern auch dem Erinnern ein Denkmal setzt – verglichen damit wirkt beispielsweise Marcel van Eedens zweifellos schöner Bildzyklus »Matheus’ Dream« eindimensional. Der 1965 im Haag geborene Künstler arbeitet seit langem an einem Archiv, das möglichst umfassend alle Aspekte der Welt vor seiner Geburt erfassen soll, sozusagen als Möglichkeit der Bedingung seiner Existenz. So sind überwiegend reizvolle kleine anekdotische Bildchen entstanden, gemalte Schnappschüsse von Motiven aus Zeitschriften, Büchern, Alben, die das Leben des Künstlers ins Vorhinein verlängern sollen. Zufallsfunde, aus denen van Eeden eine (Vor-)Lebensgeschichte konstruiert, so glaubwürdig wie irgend eine »wahre«. Wobei aber die Fiktionalität dieser Setzung in den Werken selbst nicht mit reflektiert wird.
Etwas, was Omer Fasts Video-Installation »Spielberg’s List« auf raffinierte Weise leistet. Der 65-Minutenfilm lässt Menschen irritierende Dinge erzählen: »Wir lagen tagelang am Bahndamm im Regen«, sagt da eine Frau auf Polnisch, per Untertitel übersetzt. Und: »Ich wollte nicht in die Selektion«. Eine andere erzählt vom Kahlscheren des Kopfes, »danach ging es in die Gaskammer«. Die Frauen reden sehr authentisch, will sagen, ergreifend; doch um das Grauen von Auschwitz oder Birkenau erlebt zu haben, sind sie offensichtlich zu jung. Und wer hätte je die Gaskammer lebend verlassen? Dann fällt der Satz: »Wir nahmen die Körperhaltung erschöpfter Leute an, die am Boden liegen.« Und der Bericht vom Gang in die Gaskammer wird damit fortgesetzt, »der Regisseur« habe ihnen eingeschärft, unbedingt die Arme hoch zu strecken. So weicht die Irritation, und es kristallisieren sich zwei Geschichten heraus: die uns allen bekannte (aber in ihrer Dimension nach wie vor unfassbare) Geschichte von Auschwitz. Und die Geschichte der Geschichte von Auschwitz, wie sie Steven Spielberg in seinem Film »Schindlers Liste« – nun, erfunden hat. Wobei ihm Menschen aus der Gegend von Krakau als Statisten dienten. Die die Protagonisten des Fast-Films sind.
So unterschiedlich stark selbstreflexiv die Arbeiten der neun gezeigten Künstler sich auch geben, eines ist allen gemeinsam. Sie stellen die Frage: »Was bedeutet es, eine Geschichte zu erzählen?«, wie Ausstellungshallen-Leiterin Gail Kirkpatrick es formuliert. Sven Johne lässt in seinen Fotos von Schiffsuntergangsstellen (»12°12’ Süd, 128°44’ Ost«) offen, ob nur das gezeigte leere Stück Wasser oder der ganze Vorfall erfunden ist. Oder beides stimmt. Das puppenhaft perfekte Ehepaar in Corinna Schnitts Video »Living a Beautiful Life« hingegen führt ein so vollkommenes Traumleben im Traumhaus vor, dass nach drei Minuten klar ist, hier stimmt etwas nicht: Es sind Schauspieler, die die Stereotypen amerikanischer Kinderträume aufsagen.
In einer Ausstellung mit dieser Thematik darf natürlich Sophie Calle nicht fehlen, die ihr Künstlerleben lang nichts anderes getan hat, als mit fiktiven Biografien und Identitäten bzw. mit der Fiktivität von Biografie und Identität zu spielen. In Münster ist sie unter anderem mit »La Dispute« vertreten, einem Schwarzweiß-Großfoto vom strahlenden Paar (»sie selbst«) im Straßenkreuzer-Coupé vor der Hochzeitskapelle, dessen Glück durch eine kleine Tafel daneben postwendend konterkariert wird: Das Schildchen schildert die Einzelheiten des Trennungsstreits. Der aber könnte auch vorher passiert sein. Und sowieso ist das Ganze inszeniert. Oder eine Episode aus Calles wahrem Leben?
Das Leben aber haben wir nicht. Nur die Kunst.
Bis 30. März 2008. Tel.: 0251/4924100 und 6744675. www.muenster.de/stadt/ausstellungshalle