TEXT: ANDREAS WILINK
Hinter dem konventionellen Auftreten und seiner literarischen Röntgenmethode und Porträtkunst, die doch auf der reinen Oberfläche dem geneigten Leser für stabil und stabilisierend gelten mochte, war Henry James ein Radikaler mit einem Blick für die Erosion bürgerlicher Verhältnisse. Wie sonst ließe sich ein Roman wie »Maisie« erklären. David Siegel und Scott McGehee haben dieses Stück 19. Jahrhundert (das Buch erschien 1897) mit Geschick um ein Zeitalter versetzt und dabei freilich um seine Pointe gebracht, die bei James ungleich größer ist, als im Film »What Maisie knew« (»Das Glück der großen Dinge«). Maisie ist sechs Jahre alt, lebt in New York und hat am Ende andere Eltern als zu Anfang: Wahlverwandte nämlich, nicht das eigene Fleisch und Blut. Eine Patchwork-Familie.
Mutter Susanna (Julianne Moore) ist ein alternder Rockstar, sprunghaft, kapriziös, unberechenbar, egoman und emotional labil. Daddy Beale (Steve Coogan), ein Engländer, hängt je öfter am Telefon, desto weniger er als Kunsthändler Erfolg zu haben scheint. Maisie hört mehr von den Streitigkeiten und Hasstiraden zwischen ihnen, als ihr gut tun kann. Umso überraschender, wie unbeschadet sie sich in den Verhältnissen behauptet. Der Scheidungsrichter teilt das Sorgerecht zwischen beiden Parteien, aber Susanna und Beale kriegen es nicht auf die Reihe. Er heiratet das bisherige Kindermädchen Margo (Joanna Vanderham), sie den coolen, aber braven Barkeeper Lincoln (Alexander Skarsgard). Masie wird verschoben, außer den beiden Stiefeltern hat keiner Zeit für sie. Nur die »angeheirateten« Partner, die nach einer Zeitlang bald keine mehr sind für die gleichgültigen, eifersüchtigen, ungefestigten Susanna und Beale, die ihre Defizite durchaus einschätzen können, schenken der Kleinen Aufmerksamkeit und Zuwendung – bald auch im Miteinander.
Henry James analysiert nicht Maisies Psyche, sondern erstattet Bericht über ihr Verhalten. Das Kind weiß mehr, als die Erwachsenen ahnen, aber nicht genug, um den »großen Dingen« gewachsen zu sein, die ihr zugemutet werden. Der Film folgt diesem Muster, indem die Ereignisse sich aus der Perspektive von Maisie (ganz großartig: Onata Aprile) darstellen. Maisie wird überfordert, aber auch in die Lage versetzt, eine mutige Entscheidung zu treffen.
»Das Glück der großen Dinge«; Regie: David Siegel & Scott McGehee; Darsteller: Onata Aprile, Julianne Moore, Alexander Skarsgard, Joanna Vanderham, Steve Coogan; USA 2012; 99 Min.; Start: 11. Juli 2013.