TEXT: GUIDO FISCHER
Wenn der Jahrhundert-Geiger Jascha Heifetz etwas für unspielbar erklärte, war das für dieses Werk das Aus. Doch im Fall des einzigen Violinkonzerts von Benjamin Britten sollte sich der unerreichte Supertechniker geirrt haben. Denn kaum hatte Heifetz 1939 die Noten gelesen und schnell weggelegt, belehrte ihn sein heute fast vergessener Kollege Antonio Brosa eines Besseren. Zusammen mit den New Yorker Philharmonikern brachte Brosa 1940 das Konzert zur Uraufführung, ohne dabei an spieltechnische Grenzen zu geraten. Trotzdem scheint bis heute Heifetz’ Verdikt wie ein Damoklesschwert über Brittens Meisterwerk zu hängen. Obwohl es trotz aller hundsgemeinen Doppelgriffe kein Bravourstück ist, hat man ihm im Aufnahmestudio und Konzertbetrieb über Jahrzehnte hin nicht recht getraut. Dabei besitzt es die Ausdrucksskalen der klassischen Moderne, um auf einer Höhe mit dem Violinkonzert von Alban Berg zu stehen – findet Isabelle Faust.
Mit ihrer Meinung steht die deutsche Star-Geigerin nicht mehr allein. So sind Kollegen wie Janine Jansen und Frank Peter Zimmermann auf CD erste Schritte hin zur Rehabilitation gelungen. Daran will nicht nur Isabelle Faust live, gemeinsam mit den Dortmunder Philharmonikern, anknüpfen. Aus Anlass von Brittens 100. Geburtstag gastiert kurz darauf Arabella Steinbacher ebenfalls mit diesem Violinkonzert beim Sinfonieorchester Münster.
LOLITA-APPEAL REICHT NICHT MEHR
Dass sich zwei Ausnahme-Künstlerinnen mit dem förderungswürdigen Werk beschäftigen, war vorauszusehen. Die Schwäbin Faust und die Münchnerin Steinbacher repräsentieren exemplarisch eine Generation von Violinistinnen, die über das gängige Repertoire hinausschaut. Vorbei sind mit ihnen die Zeiten, als kesser Lolita-Appeal à la Vanessa Mae mehr zählte als gestalterische Intelligenz. Vollkommen seriös, aber nie ohne Emotionalität und Spontaneität haben Faust und Steinbacher ihren Weg gemacht und selbstbewusst musikalische Randbezirke erkundet.
Wer ihre Diskografie nebeneinander legt, kann erstaunliche Überschneidungen feststellen. Beide haben ein Faible für den Kammermusiker Brahms bewiesen und das Violinkonzert von Beethoven mit dem von Berg gekoppelt. Während Steinbacher sich für die Solo-Konzerte des Franzosen Darius Milhaud begeistert, setzte sich Faust für das noch unbekanntere Violinkonzert dessen Landsmanns André Jolivet ein.
Abwechslungsreichtum und Pioniergeist eint beide Musikerinnen ebenso wie ihre Abneigung gegenüber »Angeberstücken«, wie Steinbacher fingerbrechende Show-Piecen von Paganini & Co. nennt. Die vielleicht außergewöhnlichste Parallele zwischen der 32-Jährigen und der neun Jahre älteren Kollegin Faust lässt sich in ihrer musikalischen Kindheit ausmachen. Sie dürften, zumindest in Europa, die einzigen Geigerinnen von Weltrang sein, die ihre Anfänge auf der Violine nach der Suzuki-Methode gemacht haben. Ohne irgendwelche Notenkenntnisse spielten sie einfach das nach, was sie im Unterricht hörten. »Eine ideale Schulung des Gehörs«, sagt Steinbacher. Faust hingegen kann sich gut daran erinnern, wie sie danach beim ersten Engagement im Schulorchester Schwierigkeiten hatte, vom Blatt zu spielen. Neun Jahre alt war sie damals. Zwei Jahre später gründete sie ein eigenes Streichquartett und gewann mit 15 Jahren den Augsburger Leopold-Mozart-Wettbewerb. Trotzdem empfand sich Faust nie als ein Wunderkind. Ihre grundsolide Ausbildung absolvierte sie u.a. bei Christoph Poppen und wurde 1994 mit dem NRW-Förderpreis ausgezeichnet.
MUNTZ-STRADIVARI UND BAROCKBOGEN
Ähnlich umsichtig verlief die Laufbahn Steinbachers. Die Tochter eines Musikprofessors studierte an der Münchner Musikhochschule, wurde von der Anne-Sophie Mutter-Stiftung unterstützt und ging dann nach Paris zu Ivry Gitlis. Der legendäre, eigenwillige Geiger und Pädagoge sollte besonders Steinbachers Interesse für die Musik des 20. Jahrhunderts wecken. So wie Isabelle Faust sich etwa für das feinsilbrige Violinkonzert des Amerikaners Morton Feldman stark gemacht hat, spielt Steinbacher Werke von Alfred Schnittke und Sofia Gubaidulina. Dennoch müssen die Damen bei Veranstaltern kämpfen, um sie für Musik von Bartók, Hindemith oder Karl Amadeus Hartmann zu begeistern.
Dabei kann man sich für jede Epoche, vom Barock über die Romantik bis zur Gegenwart, kaum überzeugenderen Anwältinnen vorstellen. Ihrer von der Nippon Music Foundation zur Verfügung gestellten Muntz-Stradivari entlockt Steinbacher einen hellen, transparenten Ton, der die Violinkonzerte von Mozart im schönsten Edelmaß erklingen lässt. Zugleich schafft sie es mit ihrem Nuancenreichtum und kostbaren Schattierungen den Konzerten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Grund vorzudringen.
Nicht weniger spektakulär ist die Ausdrucksfülle von Isabelle Faust, da sie in großen Bögen spielt und stets mitdenkt. Mit fast expressionistischem Kolorit und heftigen Kontrasten aus einsamen Gesängen und energiereichem Furor hat sie das Violinkonzert von Brahms aus dem Geist der Moderne musiziert. In ihrer Einspielung der Solo-Violinwerke von Johann Sebastian Bach griff sie auf einen Barockbogen zurück, um einen sehr reinen, schlanken, doch hochkonzentrierten Klang zu erzeugen. Bei ihrer jüngsten Aufnahme zeigt Faust bei Violinsonaten Carl Maria von Webers, wie man solche unterschätzten Leichtgewichte auf höchstem Niveau wiederbelebt. Nicht zuletzt gelang es ihr, ein besonderes Instrument aus 150-jährigem Tiefschlaf zu holen. Es ist die lange auf einem Dachboden, danach in einem Tresor vergessene »Dornröschen«-Stradivari, auf der sie nun das Britten-Konzert wachküssen wird.
Isabelle Faust, Dortmunder Philharmoniker, Jac van Steen: 2. & 3. Juli 2013, Konzerthaus Dortmund; Arabella Steinbacher, Sinfonieorchester Münster, Fabrizio Ventura: 14., 16. & 17. Juli 2013, Städtische Bühnen Münster