// Krakelig, irgendwie unfertig sieht das neue Logo des Musiktheaters im Revier aus. Das Provisorische macht sich in der freien Szene gut, Opernhäuser präsentieren sich gewöhnlich gediegener. Aber ein traditionelles Haus ist das Gelsenkirchener Musiktheater nie gewesen; genau das will die neue Intendanz offenbar betonen. Michael Schulz tritt kein leichtes Erbe an. Sein Vorgänger Peter Theiler hatte dem MiR ein eigenwilliges Profil gegeben und mutig, bisweilen tollkühn Programm-Nischen besetzt. Schulz’ erste Saison liest sich dagegen noch etwas beliebig. Von Theilers Belcanto-Idee hat er sich verabschiedet und öffnet das ernste Fach von Purcell bis Britten. Eine bewährte Trumpfkarte spielt Schulz jedoch weiter, auch er will das Musical pflegen. Andernorts geht man mit der Gattung, die hier zumeist im Sperrbezirk eigens erbauter Musicalarenen stattfindet, eher sparsam um. Gilt doch das Musical als dubiose Schwester der anrüchigen Operette. Außerdem überlässt man das Genre lieber den Spezialisten, extra ausgebildeten Sängern, die mit ihren am Ideal des Popsängers trainierten Stimmen auf Verstärkungstechnik angewiesen sind und zudem tanzen können. In Gelsenkirchen arbeitet man indes traditionell mit dem klassischen Sängerensemble und der heimischen Neuen Philharmonie Westfalen. So auch Schulz.
Leonard Bernsteins »Candide« ist bei Lichte betrachtet gar kein echtes Musical. »American Operetta« hat der Komponist sein Werk genannt, das Vaudeville, Broadway-Show, Comedy und Opern-Parodie mischt. Nach der Vorlage Voltaires wird die Geschichte des simplen Titelhelden erzählt, der eine gewisse Cunigunde liebt, die im Krieg verschleppt wird. Auf der Suche nach ihr reist Candide durch die Welt, erlebt Reichtum und Dekadenz, Inquisition, Pest und Syphilis, kurzum, das pralle Leben, das ihm Naivität und Optimismus austreibt. Unzählige Rollen wollen besetzt sein: bis zu 14 Figuren werden am MiR von einem Darsteller verkörpert, aber auch für größere Parts gibt es Springer und fliegende Wechsel. Die gestraffte Fassung beschleunigt noch die ohnehin rasante Handlungsabfolge. Schlag auf Schlag folgen Katastrophen, Mord, Totschlag und Klamauk. Chefdirigent Rasmus Baumann gibt sein Bestes, auch die Sänger leisten Erfreuliches. Regisseur Gil Mehmert denkt von der Revue her und nimmt die Ereignisse vorwiegend heiter. Alissa Kolbusch hat eine funktionstüchtige Varieté-Bühne gebaut, auf der reges Treiben herrscht. Fufu Frauenwahls Comics warten zudem mit hübschen Frechheiten auf. Dennoch will der Abend nicht recht zünden. Liegt es daran, dass Voltaires beißende Ironie sich am Ende mit Bernsteins Partitur doch nicht verträgt? »Candide« sitzt wahrhaftig zwischen allen Musiktheater-Stühlen. Ein schillerndes Ding von süffiger Opulenz, mit dem Bernstein selbst nie glücklich wurde, innerhalb von dreißig Jahren schrieb er das Werk mehrfach um. An die aus Gelsenkirchen vertrauten rasanten Musical-Abende kann es noch nicht anschließen. // REM