TEXT: SASCHA WESTPHAL
Die Anweisungen, die unsere Gruppe per Telefon vom Checker aus der Spiel- und Börsenzentrale am Dortmunder Nordmarkt erhalten haben, sind eindeutig. Wir sollen zur Dürener Straße gehen und dort dann zum Basar. Die Straße ist mit Hilfe der Stadtkarte, die man zu Beginn unserer Reise durch die Nordstadt bekommen hat, schnell gefunden. Nur der Basar ist nirgends zu sehen. Die wenigen Passanten an einem milden Frühsommerabend können auch nicht helfen. Von einem Basar haben sie hier nie gehört. Also wird der Checker kontaktiert für nähere Informationen. Er sagt nur: Einfach weitergehen, uns werde dann jemand ansprechen.
Schließlich sehen wir eine Gruppe von Männern, um ein Auto herum stehend und in erregter Diskussion. Einer kommt herüber, um zu bitten, man möge doch mal einen Blick auf das Auto werfen. Er sei extra aus Hamburg gekommen, um den Wagen zu kaufen. Nur entspreche er aus seiner Sicht nicht der Beschreibung im Internet. Von einer größeren Delle sei nicht die Rede gewesen, auch die Bremsen seien schadhaft. Mittlerweile reden auch der Verkäufer und seine Begleiter in den Vortrag hinein und beharren auf dem Preis. Der Streit wird hitziger und greift auch auf uns über. Fix ist jeder Partei und unterstützt deren Sicht.
Situationen wie diese sind ein zentraler Teil von Jörg Lukas Matthaeis Arbeiten. Wer als Theatergänger an einem Projekt wie »Crashtest Nordstadt« teilnimmt, dessen erster Teil »mach mein spiel« stattfand, verlässt den mehr oder weniger geschützten Raum des Theaters und gibt seine angestammte Rolle als Zuschauer auf. Jeder Schritt führt tiefer in eine Welt, die er so nicht kennt. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als Teil einer Inszenierung von Realität zu werden: muss reagieren, sich auf Situationen und Menschen einlassen und Entscheidungen treffen. Den äußeren Rahmen haben Matthaei und sein Team abgesteckt. Was innerhalb seiner Grenzen geschieht, ist auch vom Publikum abhängig.
Seit dem Jahr 2000 hat der 1969 in Köln geborene und in Leverkusen aufgewachsene Jörg Lukas Matthaei unter dem Label »matthaei & konsorten« (wobei sich hinter den Konsorten wechselnde Teams verbergen) an die 40 Projekte realisiert. Einige beinahe schon klassische Inszenierungen. Andere ähnelten eher Installationen, wieder andere verstanden sich als Diskurs-Theater. Mittlerweile erarbeitet Matthaei vorrangig Produktionen, die öffentliche oder private Räume neu vermessen. Die variablen Formate beziehen Ideen und Inspiration aus Alltagssituationen, Videospielen, soziologischen Theorien und gesellschaftlicher Realität.
Der in Koproduktion mit dem Schauspiel Dortmund entstandene »Crashtest Nordstadt« fügt sich in diese Reihe, die Matthaei etwa in einem ehemaligen Luxus-Hotel in Bremerhaven, in der Berliner Blindenanstalt, an Orten in Köln, in einem fast verlassenen Dorf direkt am Flughafen Leipzig/Halle und in Düsseldorf-Oberbilk entwickelte. Die Vorarbeiten für die Exkursion in die Nordstadt, die in den Medien meist als sozialer Brennpunkt beschrieben wird, begannen vor zwei Jahren. Matthaei sagt, dass auch für ihn, der das Viertel nicht kannte, »alles mit den üblichen Klischees von außen« begonnen habe: »Je mehr ich dann on the ground, auf Bürgersteigniveau, in Wohnungen, Büros und Läden unterwegs war, desto mehr hat sich das Bild verändert«. Diese Erkundungen, die nicht dem Ondit entsprechen, waren sein Schlüssel.
Das Format ergab sich aus Recherchen und Erfahrungen vor Ort. Für Matthaei drängten sich Metaphern aus dem Bereich der Wirtschaft zunehmend auf. Schließlich sind weite Teile der Nordstadt-Bevölkerung Zuwanderer, die aufgrund der ökonomischen Situation in ihrer Heimat nach Dortmund kamen und in ein System geraten, das »ihnen fremd ist und dem sie auch fremd sind«. Zudem wollte Matthaei die Frage umdrehen: »Wer guckt auf wen?«.
Im Zuge dieser Umkehrung wurden die Teilnehmer zu Aktien der Nordstadt-Checker, die in der Spielzentrale die Fäden in der Hand hielten. Jeder Spielmacher hatte ein paar Aktien in seinem Portfolio, die er auf Tour schickte. An fünf Stationen trafen sie auf Anwohner, die ihnen Aufgaben übertrugen. Je nach Gelingen stieg oder fiel ihr Wert.
Wer sich dem »Crashtest« unterzog, hatte Möglichkeiten und Freiheiten, aber nicht die Kontrolle. Matthaei war »das Gefühl wichtig, dass ich in einem System drin bin und dessen Auswirkungen spüre, aber nicht wirklich verstehe, wie es komplett funktioniert«.
Matthaei bezeichnet seine Projekte in Anlehnung an Joseph Beuys als »soziale Plastiken«. Die spezifische Wirklichkeit ist dabei nur die Folie, auf der sich die Abende entwickeln und die Teilnehmer sich als Künstler entdecken. »Man eröffnet Möglichkeitsräume jenseits der üblichen Verhaltensweisen, jenseits der üblichen Abfolgen von Signalen, auf die man reagiert. Aber wie diese Räume von den Besuchern wie von den Akteuren genutzt werden, bleibt ihnen selbst überlassen – zu Recht.«
Anders als sonst üblich wird es jetzt mit »Crashtest 2. rückkehr zur nordstadt« eine Fortsetzung geben. Noch ist offen, was einen da genau erwartet. Aber gewiss wird »auf den Erfahrungen, dem Wissen und der Spielfreude« des ersten Durchlaufs aufgebaut. Die Nordstadt bietet noch einige Überraschungen.
»Crashtest 2. rückkehr zur nordstadt«, Außenprojekt des Schauspiels Dortmund: Treffpunkt: Braunschweiger Str. 31-33); Premiere: 28. September 2012; Termine: 29., 30 September und im Oktober; www.theaterdo.de