Dass die archäologische Grabungsstätte und der auf der Krim konstituierte »Intereuropäische Gerichtshof« nur eine halbe Drehung voneinander entfernt sind auf der Bühne, hat seine Richtigkeit. Auch die Justiz will verschüttete Wahrheit freilegen, aber das ist es nicht allein: Wir haben es auch mit einer Schädelstätte zu tun, einem Massengrab, in dem nicht nur die Toten ruhen (oder vielmehr in Unruhe sind), sondern die Lebenden, Überlebenden, Mitlebenden (also wir), die sich Fragen gefallen lassen müssen, die manchmal sehr einfach zu beantworten sind und manchmal diffizil.
Insofern dürfen sich die zwei Stunden im Düsseldorfer Schauspielhaus in ihrem dramatischen Aufbau und Ablauf kompliziert entwickeln und auch disparaten Eindruck hinterlassen, obwohl der Schluss – fünf letzte Fragen an uns, das Publikum – an Eindeutigkeit nicht zweifeln lässt. Doch dazu später.
»Die Orestie. Nach dem Krieg« heißt das deutsch-ukrainische Projekt, das mit dem Modewort der Überschreibung – hier des Atriden-Mythos und der Aischylos-Tragödien in ihrer Kette und Verkettung von Gewalt – nur unzulänglich benannt wäre. Ja, es gibt einen Orest Horets, der seine Mutter und deren Liebhaber, seinen Onkel Pavel und Bruder des Vaters Ivan, getötet hat, nachdem die Zwei den Kriegsheimkehrer Ivan, Held des Vaterlandes wie auch in Nachfolge sein uniformierter Sohn, umgebracht und verscharrt hatten. Der Brudermörder Pavel wiederum spricht die Sprache Russlands und hat dort gelebt und sich assimiliert, bevor er ins Haus von Ivan als Gast des Bruders kam und sich rüde aufführt.
In einer Zeit nach dem Ukraine-Krieg
Orest (Jonas Friederich Leonhardi) muss sich, der Diagnose Posttraumatischer Belastungsstörung zum Trotz, für seinen Doppelmord vor Gericht verantworten, seine Schwester (Elektra) vertritt ihn als Anwältin, während die weiblichen Geschworenen zugleich den antiken Chor und die Erinnyen repräsentieren, die die Schuld nach dem ehernen Gesetz »Blut fordert Blut« verfolgen. Die Götter Griechenlands aber gibt es nicht, sie haben sich längst entthront, nicht erst seit dem 24. Februar 2022.
Wir befinden uns in dem von Tamara Trunova und Regisseur Stas Zhyrkov bearbeiteten und neu geschriebenen Stoff im Jahr 2029, der Krieg ist zu Ende, die Ukraine hat offenbar gesiegt, ist Mitglied von EU und Nato, die Krim befreit, Putin nicht mehr existent. Aber die Jahre des Krieges seit 2014 (nicht erst seit 2022) haben sich eingelagert: Wie damit leben? Wie es verarbeiten, auch auf der Bühne, wie es darstellen?
Zhyrkovs inszenatorische Mittel, um Krieg und Krise, Konfliktbewältigung, Befriedung einer Gesellschaft und Entlastung von ihren inneren Widersprüchen zu formulieren und ins Bild zu setzen, sind (auch an Themen und Perspektiven) mehr ein Sammelsurium als stringent, die Konstellation der Orestie scheint unvollkommen übertragbar, das Fragmentarische wird zur Methode; darunter etwa die bestürzende, historische deutsche Verantwortung aufrufende Mitteilung, dass erst kürzlich Knochenfunde von Angehörigen der Wehrmacht im Boden der Ukraine geborgen worden seien, die auf Hitlers eliminatorischen Ostfeldzug verweisen.
Auf der Düsseldorfer Schauspielhausbühne (Paulina Barreiro) wird die filmische Leinwand aufgezogen, wackelt das Handy-Video, zeigt sich der rein weiße Faltenwurf des Trauerspiels zwischen gestürzten Säulen wie ein Goethe’sches »Iphigenie«-Zitat, klingt Lessings »Nathan«-Pathos an, steht das Hohe unvermittelt neben dem Niederen, Drama neben Satire und Reality-TV, legt das dokumentarische Theater Zeugnis ab, erhalten Verbrechen und Strafe neuen Kontext, überblenden Figuren, tropft Blut von Lippen, fließen Tränen und mischt sich Gesang mit Totenklage.
Gelegentlich sehnt man sich nach klar umrissenen Konturen und Deutlichkeit der Figuren, Situationen und Konstellationen, was Friederike Wagner als Klytaimnestra / Kateryna Horets (und zugleich Staatsanwältin) einlöst, wenn sie ihren Rechtfertigungs-Monolog hält, der sie selbst als Opfer des Mannes beglaubigt. Denn Gewalt gegen Frauen ist bekanntlich eine äußerst funktionstüchtige Kriegswaffe. Butscha und Irpin haben noch viele weitere Namen.
Nicht Leiden beobachten und dabei stillsitzen, sondern den »täglichen Kampf« des ukrainischen Volkes in jedem Einzelnen für real nehmen und aus dem Gehörten und Gelernten Konsequenz ziehen, das ist die Aufforderung, die die fünf letzten Fragen des Chores frontal von der Rampe aus an den Zuschauersaal richten. Das Theater verlässt an diesem Punkt den Kunstraum und muss sich deshalb auch nicht mehr dessen Kategorien unterordnen. Weshalb der anschließende stehende Applaus auch nur dann Sinn ergeben würde, wenn er – sagen wir es klar und einfach – Botschaft und Zeichen dafür wäre, dass sich mit ihm die deutsche Haltung zur Taurus-Lieferung mehrheitlich verschieben würde. Auch wenn Olaf Scholz nicht im Publikum saß, was ihm im Übrigen dringend zu empfehlen wäre.
Düsseldorfer Schauspielhaus, Vorstellungen: 26. März, 15. und 29. April