Das Gerüst steht schon, doch die meterlangen Tentakel liegen Mitte April noch zusammengerollt in der Ecke. Erst die Luftpumpe wird die Riesenkrake in Form bringen. Auf dem Vordach direkt über dem Eingang zum Saalbau in Witten soll die Kunststoffhülle sich füllen und der Oktopus zur begehbaren Raumskulptur heranwachsen. Er ist das spektakuläre Aushängeschild für eine Gesamtinstallation, die sich drinnen im Saalbau fortsetzt und das Foyer des großzügigen 70er-Jahre-Baus in eine Art Kreuzfahrtschiff auf dem Trockenen verwandelt, so die Idee des Wiener Theaterkollektivs God’s Entertainment.
Einer von 20 Beiträgen zum »Ruhr Ding«, das sich diesmal im Süden des Reviers breit macht: Witten, Essens Stadtteil Steele und Mülheim an der Ruhr sind die Schauplätze, an denen sich die Künstler*innen mit ihren meist eigens für diesen Anlass entstandenen Werken einrichten. Sie besetzen Kaufhäuser und Kioske, ziehen unter Brücken, in Schaufenster und Industriehallen. Auch Parks und Pumpenwerke werden zu Kunstorten. Es ist die dritte und nun leider auch die letzte Ausgabe dieses dezentralen Kunstevents, das Britta Peters als Leiterin der »Urbanen Künste Ruhr« 2019 an den Start gebracht hatte und nun abschließt – nicht zuletzt »wegen der vielen Genehmigungs-Hürden, die Kunstprojekten im öffentlichen Raum in den Weg gestellt werden«.
Peters erstes »Ruhr Ding« trat unter dem Titel »Territorien« an und rückte regionale und nationale Abgrenzungsbewegungen in den Fokus. Alle redeten damals vom Brexit, und auch der überall erstarkende Rechtspopulismus wurde diskutiert. 2021 dann hieß es »Ruhr Ding: Klima« – man ging die Erderwärmung an, schaute aber gleichzeitig auch auf das gesellschaftliche Klima.
Das aktuelle »Ruhr Ding« wählt mit dem »Schlaf« ein Thema, das dem Oktopus fast fremd ist. Seine Spezies schläft höchstens eine Minute am Stück, und viel mehr ist auch dem Wittener Exemplar nicht vergönnt. Denn sobald es auch nur ein bisschen schlapp scheint, bringt die Pumpe es wieder in Form. Das Gute am Schlagwort Schlaf ist, dass es viel Freiraum bietet vor allem im Traum. So wird in Witten die Kreuzfahrt zum Reise-Traum und zugleich zum Trauma. Denn God’s Entertainment befrachtet seine maritime Installation mit den brennenden Problemen unserer Zeit: Das Traumschiff wird als Klimakiller entlarvt. Der Pool ist knochentrocken, und in einer kleinen Bord-Kapelle werden Korallen geopfert. Am Glücksspielautomaten zockt man nicht um Geld, sondern um Reisepässe, und die Fluchtwege im Saalbau sind mit Fluchtgeschichten tapeziert.
Virtuelle Flusslandschaften
Sicher kein verträumtes Schlaflied ist der Beitrag von God’s Entertainment. Eher schon ein verspielter Weckruf. Munter geht es denn auch weiter durch Witten. Zum schönen Schwesternpark etwa, den Nora Turato in einen Klangparcours verwandelt. Vorbei an der Eiermann-Fassade des ehemaligen Kaufhofs, in dessen Schaufenstern Joanna Piotrowska anstelle von schönen Menschen in schicken Kleidern surreale Blicke auf die Welt inszeniert. Oder ins alte Pumpenhaus an der Ruhr: Dort wird Yuri Pattison die Besucher*innen auf einer großen LED-Wand in virtuelle Flusslandschaften entführen – generiert mit Hilfe einer Game-Engine, die unter anderem das Besucheraufkommen und Echtzeitdaten von Wassermessungen in der Umgebung auswertet.
Einmal mehr zeigt sich, welch unterschiedliche Assoziationen das Thema Schlaf weckt. Gerade heute gewinnt es neues Gewicht, wie Britta Peters bemerkt: »Mit der Industrialisierung wurde der Schlafrhythmus angepasst an den Rhythmus der Maschine. Mit der zunehmenden Digitalisierung hat sich aber nun auch dieser Rhythmus aufgelöst«, so die Kuratorin. Bis hin zum drohenden Verlust der nötigen Ruhephasen angesichts ständiger Verfügbarkeit. Wie die Erwerbsarbeit den Tag und die Nacht taktet, das beschäftigt auch Melanie Manchot in ihrem für das »Ruhr Ding« produzierten Film, der passenderweise in einem Discoraum läuft. Denn er begleitet neun Frauen bei der Arbeit durch die Nacht – Türsteherin, Bäckerin, Straßenbahnfahrerin, Pole-Tänzerin… Von den Abendstunden bis ins Morgengrauen.
Das »Ruhr Ding« dagegen erlaubt keine Nachtarbeit. Die Ausstellungsstätten machen abends dicht. So dass es am nächsten Morgen ausgeruht weitergehen kann. Zum Beispiel gut 20 Kilometer mit dem Rad Richtung Westen nach Essen-Steele. Hier schaut es weniger lauschig aus als in Witten. Denn um 1970 haben die Stadtplaner gründlich zugeschlagen und Essen-Steele, im Geiste der Zeit, zur autofreundlichen Stadt umgestaltet. Ganze Straßenzüge mit Fach- und Gründerzeitbauten wurden beseitigt, an ihre Stelle trat etwa eine hellgelbe Seniorenresidenz und ein heute überwiegend leerstehendes »Globus-Center«, das nicht sehr einladend aussieht, aber zumindest genug Freiräume für Kunstprojekte bietet.
Zum Beispiel an der Fassade, die Kameelah Janan Rasheed großflächig bespielt. Oder auch in einem verwaisten Ladenlokal, dessen Decke Nadia Kaabi-Linke mit einer großen Spiegelkonstruktion ausstattet und auf diese Weise die Illusion eines unendlich weiten Raums schafft. Es geht ihr dabei auch um Astro-Mining – um die Verklärung des Weltraums als potenziell unbegrenzter Rohstofflieferant. Der ironische Bezug zur Bergbauvergangenheit des Reviers liegt auf der Hand.
Heute setzt man lieber auf die Sonne. So auch Stephanie Lüning, die am 7. Mai zur Eröffnung anreist, um in Steele einen bunten Schaumtraum zu kreieren. Eine aus Gartengerät gebastelte Maschine, biologisch abbaubares Spülmittel und Lebensmittelfarbe machen es möglich. Wer diese einmalige Aktion auf einer zentralen Treppe in Bahnhofsnähe verpasst, dem bleibt Lünings permanentes solarbetriebenes Schaum-Schauspiel in einer ausgedienten Telefonzelle. Die Berliner Künstlerin hat das Relikt aus der Zeit vor dem Handy noch einmal aus dem Schlaf erweckt und auf dem Dach mit Solarpanels ausgestattet. Wenn die Sonne scheint, sorgen sie dafür, dass in der Zelle ein Schaumberg wächst. Ist es aber länger wolkig, fällt der Berg in sich zusammen. Auch bei Nacht, wenn es dunkel ist, stehen die Traumschaum-Maschine still. Ganz von allein kommt so der alte Rhythmus zurück ins Revier.
Unter der Konrad-Adenauer-Brücke in Mülheim an der Ruhr erwacht der neue Tag, wenn Nik Nowaks Arbeit die ersten Töne von sich gibt. Nicht irgendwelche. Nur wer schon einmal ein »Soundsystem mit erweitertem Frequenzspektrum« erlebt habe, wisse, wie intensiv die psychische und physische Wirkkraft sei, erklärt der Künstler. Mit Blick auf die imposante Anlage im umgebauten Seecontainer möchte man ihm glauben und ist gespannt. Zumal die Komposition noch nicht feststeht, sondern von der Partizipation des Publikums lebt – Anwohner*innen, Interessierte, Sound-Enthusiast*innen. Alle können sich einbringen und den Unort zum Klangerlebnisraum machen.
Zum Mitmachen gedacht ist auch Michel Gondrys kleine Traumfabrik im alten Gebäude der ehemaligen Dreherei in Mülheim an der Ruhr, wo man in diversen kleinen Bühnenbildern seine eigenen Filmpläne verwirklichen kann. Egal, ob Love Story, Thriller, Science-Fiction. Das klingt nach Hollywood, hat aber auch viel Revier-Flair. Von der Holzvertäfelung in der Kneipe bis zum Design der Polster im U-Bahn-Setting.
Den Drehtag könnte die Crew zum Beispiel in Viron Erol Verts Installation ausklingen lassen. Die war einmal eine heruntergekommene Trinkhalle, in die der Künstler sich verguckt hatte. Fürs »Ruhr Ding« verzaubert er das schäbige Gehäuse in Mülheim mit viel Farbe, Formen und Anbauten in den Traum von einem Kiosk. Spiegel auf dem Dach holen den Himmel über der Ruhr auf die Erde.
Knapp zwei Monate, dann ist der mit Kosten von rund 2,5 Millionen Euro verbundene Zauber im Revier vorüber. God’s Entertainment wird die Luft aus den Tentakeln lassen, Stephanie Lüning die Schaumproduktion einstellen, Nik Nowak den Sound-Container abtransportieren. Und man kann es jetzt schon bedauern. Dass ein »Ding«, in dem so viel Energie, so viele Anregungen, Ideen und Kunst für alle steckt, nach drei Ausgaben wieder einschläft. Noch bevor es sich richtig etablieren konnte.
»Ruhr Ding: Schlaf«
Mülheim an der Ruhr, Essen-Steele, Witten
Mit einem »Satelliten« im »Healing Complex« in Gelsenkirchen-Erle
5. Mai bis 25. Juni