Noch lehnen zwei großformatige Fotogramme an den Wänden. Eine Leiter steht am Treppeneingang im Weg. »Lichten«, der Titel der Ausstellung, wird gerade Buchstabe für Buchstabe unter der Decke angebracht. Es sind nur noch einige Tage bis zur Eröffnung. Trotzdem ist von Hektik keine Spur. Thomas Ruff, leger in Jeans und blauem Hemd, gibt sich entspannt. Die Anordnung der fünf Serien steht. Nur noch wenige Einzelbilder müssen gehängt werden.
Im großen Saal im ersten Stock bekommt der Rest der Fotogramme in einer großzügigen Hängung seinen großen Auftritt. Es sind einige darunter, die im Genter S.M.A.K., der Vorgängerstation im Frühsommer, nicht dabei waren. »Ich wollte den Düsseldorfern etwas Neues bieten, das noch nicht zu sehen war«, sagt der 56-Jährige schmunzelnd. Den flämischen Titel hat er trotzdem beibehalten, vielleicht weil »lichten« in dieser Sprache auch leuchten bedeutet, eine winzige Bedeutungsverschiebung, die den Facettenreichtum des Phänomens Licht als Leitmotiv der Schau andeutet.
Wie der Dunkelkammer eines Bauhäuslers entsprungen sieht die Serie der »phg« (2012-2014) nicht gerade aus. Zu farbintensiv und gestochen scharf geben sich die Kompositionen aus Wellen, Kreisen, Spiralen, Kugeln und runden Linsen. Selbst vor modischen Tönen wie rosa und violett schrecken die verspielten Silhouetten nicht zurück. Manch eine erinnert ihren Urheber an die Bildwelt von Paul Klee. Die westeuropäische Ikonografie lasse sich eben nicht so leicht abschütteln, meint Ruff.
Die Idee, das altehrwürdige Genre neu zu interpretieren, kam ihm beim Betrachten von zwei Fotogrammen, die er zu Hause hängen hat. Sie stammen von Arthur Siegel, einem Studenten von László Moholy-Nagy am New Bauhaus in Chicago. Wie kann man so etwas in die digitale Jetztzeit transferieren, hat er sich gefragt, die abstrakte Ästhetik der Zwanziger der Technik von heute angleichen?
ZUFALL WEICHT BIG DATA
Eine Kamera zu benutzen kam natürlich nicht in Frage. Ein Vorgang, den er in seinem Selbstverständnis als Konzeptkünstler ohnehin für unangemessen hält. Aber auch das übliche Verfahren der Luminografie, Gegenstände auf lichtempfindlichem Papier zu belichten, wie es schon die Meister des Fachs vom Schlage eines Man Ray, Christian Schad und nicht zuletzt Moholy Nagy perfektionierten, galt es zu umschiffen. Inbegriffen der Begrenzung auf ein schwarz-weißes Resultat.
Das Update gelang nur dank einer monströsen Rechenakrobatik. Der Zufall, der noch bei seinen Vorgängern ein Mitspieler auf Augenhöhe war, wich der Kontrolle von Big Data. Als Ruff merkte, dass es ihn ein Jahr kosten würde, mit seinen drei Macs und sechs PCs ein großformatiges, maximal hochauflösendes und zugleich auch farbiges Exemplar zu erschaffen, entschied er sich fürs Outsourcing. Das Forschungszentrum in Jülich übernahm unentgeltlich die Mammutaufgabe, den Radius des bisher technisch Machbaren zu erweitern. Im Gegenzug bekam es die Gelegenheit, die Grenzen der Leistungsfähigkeit seines Supercomputers zu testen.
Der 40 Millionen Euro teure Hochleistungsrechner Juropa, der wie eine Reihe von zu groß geratenen Metallschränken in einer riesigen Halle für höllischen Lärm sorgt, galt gerade als Auslaufmodell. Physiker, Mediziner oder Biologen nutzten ihn, um Wetterdaten oder chemische Prozesse zu berechnen. Der Server erfreute sich zwar der vierzigfachen Kapazität eines Heimcomputers. Aber seine Zeit war trotzdem gezählt.
Die Jülicher ließen sich vier Monate lang auf das Foto-Experiment ein, weil es ihnen bei der Suche nach den Parametern für den Nachfolgerechner nützlich war. Am Ende der programmierten Prozessorenraserei um virtuelle Lichtquellen, potentielle Schattenwürfe und imaginäre Objekte bekam Ruff 15 elektronische Dateien zurück, die jeweils um die 18 Tera-byte auf dem Buckel hatten. 24 Bilder umfasste die eingefahrene Ernte. Steht man vor den ausgedruckten Resultaten der Simulation, kommt man über die strahlende Leichtigkeit der Kolosse nicht aus dem Staunen heraus, eine Mischung aus kristallinen bis zu oval fließenden Formen, grob oder fein gekörnt, gepaart mit kunsthistorischen Zitaten und blutgefrierender Präzision.
Das Verwenden einer virtuellen Dunkelkammer habe etwas von Platons Höhle, meint Ruff, das Auge des Betrachters könne nur den Schatten der Objekte erahnen, der aus der Lichtbrechung entsteht. Welche Realität sieht er also in den künstlich erschaffenen Artefakten? Eine Illusion, die Ruff einzufangen reizt, weil sie die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Fotografie neu stelle.
2014 ist auch die jüngste Werkgruppe »Negative« entstanden. Sie gönnt sich im Raum gegenüber eine selbstreflexive Zeitreise in die Fotogeschichte, die Ruff vor allem als Kulturgeschichte begreift. Das Bildverfahren der Cyanotypie entstand Mitte des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die Daguerreotypie und Talbotypie. Zur Herstellung der Abzüge wurde Eisen statt Silber verwendet, was die typisch blaue Cyanfärbung zur Folge hatte. Ruff erreicht den Effekt, indem er Positivbilder digital zurück ins Negativ invertiert, eine Bildvorstufe, die heute im Verschwinden begriffen ist. Der bräunliche Farbton der Schwarz-Weiß-Fotos geht dabei in einen Blauton über.
Als Motive dienen klassische Genres der Wirklichkeitswiedergabe, die bis zum Auftauchen der Fotografie dem Produktionsbereich der Malerei oblagen: Frauenakte, Künstlerateliers und eine ethnografisch angelegte Serie von indischen Maharadschas aus dem 19. Jahrhundert. »Die habe ich aus einem britischen Archiv«, erzählt Ruff. »Ich hätte sie auch bei einer Auktion für mein eigenes Archiv ersteigern können, habe es aber zu spät gemerkt. Den Besuch eines Rechtsanwalts wegen der Weiterverwendung muss ich aber nicht fürchten. Im Web gibt es inzwischen ausreichend Public Domains, Quellen also, die auf das Copyright verzichten.«
Im Gegensatz zu seinen hypernüchternen Porträts von Zeitgenossen in Übergröße, mit denen er bekannt geworden ist, versprühen die eher kleinformatigen, sich selbst bespiegelnden Männerbünde den Charme exotischer Wiedergänger aus einer weit entfernten Epoche.
In der giftgrünen Serie »Nächte« (1992–1996), die den mitunter an der Grenze zur Geschlechterverwirrung gekleideten Maharadschas Gesellschaft leistet, übernimmt eine Infrarot-Kamera das Kommando. Auf das Nachtsichtgerät stieß Ruff während des Zweiten Golfkriegs, als das Kampfgeschehen aus der Dunkelheit gezerrt und mit einem Schleier überzogen in unsere Wohnzimmer flatterte. Beeindruckt von der Überwachungstechnologie, übertrug er ihre Ästhetik auf seinen Wohnort. Und siehe da, die Düsseldorfer Straßenszenen bekamen die Thriller-Qualitäten einer mysteriös ausgestorbenen Vorstadthölle.
Eine andere Richtung ungewöhnlicher Bildproduktion nimmt im zweiten Stockwerk die tiefschwarze »Sterne«-Werkgruppe (1989-1992) ein. Sie basiert auf wissenschaftlichem Fremdmaterial der Europäischen Südsternwarte (ESO) in den chilenischen Anden, das mit teleskopischer Linse aufgenommen worden ist. Ruff schwebte in der Jugend der Beruf des Astronomen vor. Weswegen diese Themenwahl am Anfang seiner Karriere nicht wirklich überrascht.
Durch eine systematisch strukturierte Motivauswahl steigerte er das erste Vortasten des Teleskops zu atemberaubend abstrakten Weltraumschluchten verstorbener oder noch in Lichtgeschwindigkeit reisender Galaxien. Ganz nebenbei philosophierte er damit zum ersten Mal über die unendlichen Dimensionen von Licht und Zeit.
Die Frage nach den Paarkonstellationen musste ja kommen. Dass es nicht offensichtlich sei, warum er die »Sterne« in einen Raum mit den »Interieurs« gehängt hat, bringt ihn zum Lachen. Das Weite treffe das Nahe – so einfach ist das also. Eine andere Antwort wäre: Zurück zu den Anfängen.
Ab den 90er-Jahren ließ Ruff die dokumentarische Welterfassung der »Interieurs« (1979–1983) – Wohnungen von Eltern und Verwandten im biederen Look der Adenauer-Ära – hinter sich. Ein Kosmos der gedanklichen Enge und verordneter Gemütlichkeit, seziert unter natürlichem Lichteinfall mit Sinn für unfreiwillig komische Einrichtungsdetails, aus dem nur die Flucht in die Kunst heraushalf.
Mit »Lichten« lässt sich der Weg von den häuslichen Stillleben, die eine neue Standortbestimmung der Kunstfotografie einläuteten, zu den Foto-grammen der Supercomputer-Ära im unaufgeregten Rückwärtsgang nachvollziehen. Eine schlüssig konzipierte Präsentation ohne überflüssige Schnörkel, in der sich Ruff auf der Suche nach dem verlorenen Licht als ein so begnadeter wie leidenschaftsloser Analytiker entpuppt, ein Jongleur mit den Apparaturen, Sprachen und Bildverfahren seines Mediums, stets aufgelegt zur optischen Überwältigung und immer gut für einen postdigitalen Gedankenblitz.
Bis 11. Januar 2015. Kunsthalle, Düsseldorf. Tel.: 0211/8996243. www.kunsthalle-duesseldorf.de