Die LGBT-Bewegung, häufig auch mit den Schlagworten »queer« oder »divers« betitelt, kennt viele Begrifflichkeiten. LGBT steht für »lesbian, gay, bisexual, transgender«. Zu ihr gehört auch der 21-jährige Tänzer Jan Kollenbach, der sich regelmäßig in Ms. Bless verwandelt. Warum trägt ein Mann gern Frauenkleider? Beim Besuch in Essen wird klar, wie vielfältig die Szene ist – und dass die Verwandlung in eine Drag-Queen längst nichts mit dem Geschlecht zu tun haben muss.
Jan Kollenbach schaut in den Spiegel und malt mit einem Pinsel Schichten von Make-up in sein Gesicht. Trägt Lidschatten auf, setzt Glitzersteine an seine Augenwinkel, tupft sich dunkelroten Lippenstift auf die Lippen – und klebt sich seinen Penis mit Tape ab. Schließlich zieht er sich eine cremefarbene Strumpfhose und einen BH mit künstlichen Silikonbrüsten an, setzt sich eine Perücke mit langen blonden Haaren auf. Vor dem Kleiderschrank entscheidet er sich für ein enges schwarzes T-Shirt, einen kurzen Jeansrock und High-Heels.
Jan Kollenbach ist eine Drag Queen; alle paar Wochen verwandelt er sich in eine Frau. Ihr Name: Ms. Bless. Drag Queen sein, das sei »viel Spaß und harte Arbeit«, sagt er. Mehrere Stunden benötigt Kollenbach, um sich zu transformieren. Bei Wein, Zigaretten und Musik stylt er dann nicht nur sorgfältig die Optik, sondern beschäftigt sich auch intensiv mit seiner Haltung, Gestik und Mimik. Obwohl er dabei jedes Mal ein konkretes Bild vor Augen hat, das er verkörpern möchte – auf einen bestimmten Typ Frau legt er sich nicht fest. Mal zieht Ms. Bless Jackett und Jeans an, mal ein kurzes Kleid; dann ist es die lange Blondhaarperücke oder der kurze Bob. Für welchen Look er sich auch entscheidet – weiblich konnotierte Attribute und Klischees sind immer dabei. Als Mann fühle er sich oft regelrecht ertappt, sagt Kollenbach, »gerade weil diese Klischees in der Öffentlichkeit so gut funktionieren«.
Unverstellte Stimme, künstliche Brüste
Auch deshalb möchte er sie auf die Spitze treiben und mit ihnen spielen. Hinzu kommt, dass er Ms. Bless »eher männlich« reflektiert: »Sie kann sehr ruppig und derb sein, haut auch mal auf den Tisch.« Seine Stimme verstellt er nie, künstliche Brüste und Make-up hingegen trägt er immer – markante Brüche, die er gerne provoziert. Kollenbach besitzt mehrere Perücken, die er aufwändig waschen muss; die Kleidung für Ms. Bless näht er größtenteils selbst. »Viele Leute glauben, dass ich als Drag Queen in einem pinken Puppenhaus lebe und mir Federboas um den Hals werfe«, sagt er. »Stattdessen sitze ich in meiner kleinen Wohnung und klebe meine Augenbrauen mit dem Prittstift ab.«
So wie ihm geht es vielen Drag Queens und Travestiekünstlern – Männer, die sich in Frauen beziehungsweise in andere Personen verwandeln. Die LGBT-Bewegung, häufig auch mit den Schlagworten »queer« oder »divers« betitelt, kennt viele Begrifflichkeiten. LGBT steht für »lesbian, gay, bisexual, transgender«.
Kollenbach erzählt zum Beispiel von Crossdressern, also Männern und Frauen, die gern die Kleidung des jeweils anderen Geschlechts tragen, aber nicht dauerhaft im anderen Geschlecht leben möchten. Oder von Drag Kings – Frauen, die mit ihrem Aussehen und Verhalten männliche Stereotype persiflieren. Die jeweilige sexuelle Orientierung des Einzelnen, etwa hetero-, homo- oder bisexuell, ist dabei marginal. »Die kommt einfach noch dazu«, sagt er. Was allen allerdings gemeinsam ist: Menschen wie Jan Kollenbach spielen mit geschlechtsspezifischen Klischees, übertreiben normierte Rollenbilder und stellen dadurch deren Sinnhaftigkeit in Frage.
Wie im Rausch
Die Essener Fotografin Katharina Kemme hat Kollenbach bei seinem Selbstexperiment, die Grenzen der Geschlechternormen zu überschreiten, begleitet. 2018 besuchte sie ihn in seiner Wohnung, ging mit ihm auf Partys und zum Christopher Street Day in Köln und Essen. Ihre Bilder sollen Zugang ermöglichen, einen Dialog anstoßen. Und zwar gerade mit denjenigen, die mit LGBT-Personen und deren Anliegen nur wenige Berührungspunkte haben. »In meinem Bekanntenkreis hat keiner ein Problem mit Menschen, die sich außerhalb der Geschlechternormen bewegen«, sagt die 27-Jährige. Außerhalb dieses Rahmens sei der Gegenwind hingegen oft deutlich spürbar. Themen wie Gendersternchen oder die »Ehe für alle« würden da schnell als Quatsch abgetan.
Ihre intime Serie porträtiert jedoch nicht nur Jans aufwändige Transformation zu Ms. Bless, sondern dokumentiert auch, was passiert, wenn diese abgeschlossen ist. Als Kemme Jan Kollenbach das erste Mal besuchte, war er unsicher. In den Club wollte die Drag Queen lieber mit dem Taxi fahren. »Aber als wir dort waren, bewegte sich Ms. Bless wie im Rausch, hat posiert und getanzt«, so die Fotografin. »Meine Bilder zeigen den Weg von Jan zur Ekstase.« Nur wenige Menschen würden es zulassen, solche wilden, unangepassten Seiten in sich herauszulassen und mit Rollen zu spielen. »Jan ist für mich ein Beispiel dafür, dass man sich ruhig trauen kann – und sollte«, sagt sie.
Wenn Ms. Bless nach Hause kommt, ist der Rausch allerdings schnell vorbei. Perücke ab. Tür zu. »Dann baue ich mich auseinander«, sagt der 21-Jährige, der Tanz an der Folkwang Universität der Künste studiert. Für ihn ist Travestie eine Kunstform, in der sich viele seiner Leidenschaften verbinden: die Arbeit mit Farben und dem eigenen Gesicht, Faszination für Kleidung, die Liebe zu Musik und Bühne. Mit 15 hat er sich zum ersten Mal wie eine Frau geschminkt. Während eines Auslandsaufenthalts in China sah er zufällig eine Travestieshow im Fernsehen »und hatte sofort Lust, es selbst auszuprobieren«. Erste Kontakte in die LGBT-Szene knüpfte Kollenbach vor einigen Jahren in Berlin. Dort experimentierte er mit Make-ups, Haaren und Kleidern, lernte die Tänzerin Janne Bless kennen, die ihm bei ersten Auftritten half und deren Nachnamen er übernahm. Wenn er heute von anderen Drag Queens spricht, nennt er sie Schwestern.
Jan möchte keine Frau sein
Seit einer Weile beschäftigt sich Kollenbach intensiv mit der Geschichte und Kultur der LGBT-Bewegung, die etwa 2019 den 50. Jahrestag der Stonewall Riots feiert –im Sommer 1969 hatten sich unter anderem Drag Queens wie Marsha P. Johnson oder Sylvia Rivera in New York gegen diskriminierende Gesetzes-Verordnungen und Gewalt seitens der Polizei gewehrt und waren für ihre Rechte eingetreten. Ein Meilenstein der LGBT-Bewegung, der jedes Jahr weltweit mit dem Christopher Street Day gefeiert wird. Nicht zuletzt deshalb ist auch die Travestie eben mehr als bloßes Verkleiden oder Karneval. »Wir kommen aus dem Geschlechterkampf«, sagt Kollenbach. »Jede Drag Queen steht für Freiheit und Vielfalt. Diese Botschaft schwingt immer mit, egal, ob ich mich nun politisch engagiere oder nicht.«
Dauerhaft eine Frau sein möchte Jan Kollenbach nicht. »Eine Frau ist der größtmögliche Gegensatz zu meinem Selbst«, sagt er. »Ich bin ein homosexuell lebender Cis-Mann.« Das »Cis« kommt aus dem Lateinischen und wird mit »Diesseits« oder »auf dieser Seite« übersetzt. »Das bedeutet, dass ich kein Problem mit meinem angeborenen Geschlecht habe – ein echtes Privileg.« Bei Transgender-Personen ist das anders. Sie können sich nur wenig oder gar nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Das führe oft zu einer existenziellen Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst, sagt Kollenbach. Aber nur einige von ihnen erwägen letztlich eine hormonelle oder operative Geschlechtsumwandlung. »Es gibt nun mal einige Menschen da draußen, für die es um mehr geht, als um ihr Geschlecht«, sagt er. »Diese Menschen nehmen niemandem etwas weg, unsere Gesellschaft hat genug Platz für alle.«
Anfeindungen und Schläge
Mittlerweile hat sich Kollenbach professionalisiert. Ms. Bless wird für Shows gebucht, übernimmt Moderationen auf Firmen-Events oder Sommerfesten. »Natürlich verkauft man sich da ein bisschen«, sagt er. »Aber meine Schwestern und ich müssen genauso durchs Leben kommen wie jeder Schriftsteller, Tänzer oder Sänger auch.« So lange Ms. Bless sich in diesem offiziellen Rahmen bewegt, haben die Wenigsten ein Problem mit ihr. Auf der Straße sieht das anders aus. Kollenbach vergleicht es mit einem Clown, den man im Zirkus vielleicht noch lustig findet, nachts in der Fußgängerzone allerdings nicht. »Unschön« sei es gewesen, als Ms. Bless erstmals draußen unterwegs war. Zu diesem Zeitpunkt wusste Kollenbach noch nicht, welche Reaktionen sie in anderen Menschen auslösen könnte. Angefeindet worden sei sie häufiger, auch Schläge wurden ihr schon angedroht.
Erst im Laufe der Zeit hat Jan Kollenbach mehr Sicherheit gewonnen und mehr Verständnis für andere. »Mit High Heels bin ich fast zwei Meter groß, natürlich ziehe ich Blicke auf mich.«