Ein Wort wie aus einem Märchen – »Vogelaugenahorn«. Es ist das erste Wort, und die da spricht, kommt aus dem Traumspiel und Sagenhaften ihres Lebens: eine Schauspielerin. Aus diesem Ahornholz ist »die Schale« des Zuschauerraums im Düsseldorfer Schauspielhaus gefertigt. In dieser Schale war Marianne Hoika geborgen – oder sie hat sie gesprengt. Je nachdem, wie man das Bild haben möchte.
Um Bilder geht es an diesem Jubiläums-Abend: Zeitbilder, die epochalen und mehr noch die persönlichen. Ein bisschen Stadtgeschichte (Henkel wäscht, Beuys quert den Rhein, der Ratinger Hof punkt), deutsche Geschichte West und Ost (!), auch und gerade weil wir hier tief im Westen stecken, und um Musikgeschichte. Es ist eine Geisterbeschwörung: die der guten Geister und die der anderen auch – im Rekurs auf die Kriegsjahre vor der übergroßen Fotografie eines forschen Fliegeroffiziers und dreier Bomber, die sich wie Zeichen an den Himmel malen, auf das moralische Trümmerfeld 1945, das Wirtschaftswunder (mit Wolfgang Neuss!), die Wohlstandsgesellschaft, die Düsseldorf gewissermaßen im Stadtwappen führt, und das Fernweh der fünfziger Jahre, die vor so viel zu fliehen hatten.
Aber zurück auf die Bühne, zum Bühnenbild (Ansgar Prüwer), dessen Verstrebungen die Rheinkniebrücke paraphrasieren, zum roten Theatervorhang, der einmal sich schließt und wieder öffnet und dahinter die tiefe weite Hinterbühne frei legt und das Mysterium der Leere, in dem Marianne Hoika zwischenzeitlich verschwindet. 47 Jahre unter acht Intendanten von Karl Heinz Stroux aufwärts hat sie ‚gedient’ und nun – noch einmal heraus ins Licht. Hoika gehörte beinahe so lange zum Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses, wie Bernhard Pfaus Theaterbau am Gustaf-Gründgens Platz steht, der in diesen Tagen 50 wird. Mit 77 Jahren durchblättert sie – »Child in time« und Kind, das »zu viel träumt«, wie ihr Zeugnis benotet – das Album ihres Lebens, während sich um sie her Jahrzehnte zur musikalischen Zeitreise komponieren, Collagen von Bild und Ton die Epoche mit ihren gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Umbrüchen spiegeln und ein zehnjähriger kecker Knabe den Conférencier gibt, Hoikas galanten Galan, Zuträger und Seelenführer.
ABBA singt bei der Hochzeit
Regisseur André Kaczmarczyk lässt Hoika im Prolog nachsinnen, wie sich Erinnerungen, Gedanken, Melodien, Tatsachen und Fantasien ineinander mischen. Aber entspringt nicht alles der Imagination: Ist es nicht so (gewesen), wie wir es uns vorstellen? Das Kind Marianne aus Gladbeck bleibt wie von einem anderen Stern angereist. Sie wird heiraten (ABBA singt dazu) und sich lösen, wird ihre Rollen, Stücktitel, Stichworte, Fragmente memorieren, die wie aus einer Echokammer zu ihr dringen.
Dass der Liederabend »I build my time« mit Deep Purple beginnt, ist ein Statement. Nicht Nostalgie und ‚Weißt Du noch?’ und ‚Es war einmal’, ist der Erreger, der sich den mit Ovationen gefeierten zwei Stunden einimpft, sondern die Revolte: die sanfte (Joan Baez) und die aufrührerische Revolte des Rock’n’Roll, Rock und blumigen High-Life der Sechziger und Siebziger und der Konterbande listiger Liedermacher wie Degenhardt, Hüsch, Mey und van Veen. Das Auge von Kaczmarczyk und der weiteren fünf Interpreten/innen lässt sich nicht trügen, aber trübt sich emotional emphatisch, wo die Idee der Befreiung und Freiheit, das Recht auf Anders-Sein, der Traum von Morgen, der Ruf der Selbstwerdung und Selbstbehauptung aufkommen. Etwa wenn Lou Strenger »I’ve Gotta Be Me« von Sammy Davis Jr., Hanna Werth eine wunderbar intime, fast arretierende Version von Doris Days »Que sera« und Claudia Hübbecker Rio Reisers »Träume« interpretieren.
Auf dem Boulevard of Broken Dreams
Die Band unter Matts Johan Leenders musiziert großartig, die Schauspieler singen sich das Herz wund, die Choreografie (Bridget Petzold) ist exquisit, die Kostüme zitieren mit wenigem Details raffiniert den Look und seine Codes, ob Cord und breite Revers, ob Pelz, ob Leder, den Glitzer der Achtziger usw. An keiner Stelle bleibt die Inszenierung lau. Sei es in den sensitiven Balladen (Kaczmarczyk & Strenger mit »She’s Leaving Home« von den Beatles), den großen Hymnen (»Who Wants to live Forever« von Queen) oder krass wütenden, kreischend aggressiven Attacken (Kaczmarczyk mit Nina Hagen), »I build my time« ist weniger ein Spaziergang auf der Sonnenallee als auf dem Boulevard of Broken Dreams. Der Asphalt brennt. Es fiebert, lodert und leuchtet, lustvoll exaltiert, stürmisch, überschäumend, zärtlich, sehr melancholisch und appellativ der Zukunft zugewandt, Europas Sterne zählend und um die Künstler-Existenz eine Girlande windend. Wenn Marianne Hoika zum Schluss, begleitet von ihren Kollegen/innen, »Born to live« ihrer Namensschwester Marianne Faithfull singt, steht einem der Atem still.
Adorno hat über Schuberts Musik gesagt, sie sei eine nicht der erhobenen Häupter, sondern der gebrochenen Herzen. Die Musik, die wir während dieser theatralen Zeit-Raum-Expedition hören, besitzt beides: das erhobene Haupt und das gebrochene Herz, den Stolz und das Sentiment.
Vorstellungen: 4., 11. und 28. Februar 2020, www.dhaus.de